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„Das Plötzlich scheint nämlich so etwas zu bedeuten
wie der Übergang aus dem einen Zustand in den anderen,
in der oder jener Richtung.
[...] das Plötzlich, dieses seltsame Wesen,
sitzt zwischen der Bewegung und dem Stillstand drin,
ohne in einer Zeit zu sein [...]“
(Platon, „Parmenides“) 1

„Die Photographie ist Stillstand. Sie unterbricht den Strom des Lebens.
Die Sonne kreist nicht mehr.“
(Hans Finsler, 1964) 2

„[...] die ganze Idee des Anhaltens von Bewegung ist zutiefst photographisch.“
(Rosalind Krauss, 1981) 3

Beim Denken über Fotografie gelangt man an eine Hürde: Diese heißt Augenblick. Eigentlich gibt es ihn überhaupt nicht, er ist ein Phantom, das von den Menschen erfunden wurde, um der Zeit ein besonderes Maß zu verschaffen: den kürzest denkbaren Teil, der uns gerade noch bewusst wird, als „der erste Reflex der Ewigkeit in der Zeit, ihr erster Versuch, gleichsam die Zeit anzuhalten.“ 4

Doch der Gedanke mit seiner Plötzlichkeit und Schärfe vermag ihn ebenso wenig zu fassen wie die Sprache mit ihrem linearen Fortschritt. Denn immer ist der Augenblick bereits vergangen, wenn man seiner habhaft werden will: Indem man ihn gedanklich oder sprachlich fixieren möchte, befindet man sich bereits im nächsten. Augenblicke können im besten Fall erinnert werden, aber es sind dann andere, gewandelte, verstümmelte, unvollständige, weil im Abstand manche Elemente verloren gehen und die Konturen unscharf werden.

Der Begriff des Augenblicks – zusammengesetzt aus Auge und Blick – deutet darauf hin, dass etwas wahrgenommen wird, das innerhalb des Gesichtssinns liegt. Heute versteht man darunter gewöhnlich jene kurze Zeitspanne, in der ein visuelles Erkennen stattfindet. Das war allerdings nicht immer so: Der Brockhaus von 1824 kennt den Augenblick noch nicht, erst nach der Jahrhundertmitte definiert ihn Meyer's Konversations-Lexikon als „die Zeit, binnen welcher beim gewöhnlichen Blinzeln die Augen geschlossen sind“, wenn nämlich „die Eindrücke der Gegenstände auf der Netzhaut noch einige Zeit währen, nachdem sie nicht mehr gesehen werden“. Dieses Sehen mit geschlossenen Augen wird bis Anfang des 20. Jahrhunderts als Bedeutung dem Augenblick zugeschrieben. Dann wird er gelöst vom Ort des Geschehens und steht nur mehr – wie im Brockhaus von 1936 – für eine „kurze Zeit“ oder einen „Zeitpunkt“, um nach dem Zweiten Weltkrieg gänzlich zu verschwinden: Die neueren Ausgaben verzeichnen den Augenblick nicht mehr.5 Der Augenblick verweigert sich also nicht nur dem schnellen Zugriff, sondern auch der Terminus verschwindet im Verlauf seiner Geschichte.

Bedenkt man, dass es den Augenblick nicht wirklich gibt, bleibt die ursprüngliche lexikalische Definition die naheliegendste. Denn sie enthält erstens den Hinweis, dass nicht das Reale gesehen wird, sondern dessen Nachbild bei geschlossenen Augen, also etwas, das zugleich nicht mehr vorhanden ist – berücksichtigt man, dass inzwischen Zeit verstrichen ist. Und zweitens wird darauf verwiesen, dass die Wahrnehmung immer zu spät kommt, wenn sie des Augenblicks habhaft werden will, dass daher die Unmöglichkeit seines Erkennens für ihn konstitutiv ist.

Die Fotografie dagegen verbreitet die Illusion, der Augenblick wäre existent, zumindest er sei es gewesen, als die Kamera in Aktion getreten ist. Das würde aber voraussetzen, dass der Prozeß der Belichtung genau so lange dauert wie der Augenblick bzw. dass eine Gleichzeitigkeit gegeben ist zwischen dem Vorhandensein des Vorbildes und dem Hervorrufen des Bildes. Doch das Sein des ealen vollzieht sich in einer anderen Zeit als der chemische Niederschlag. Dieser ist ein Vorgang, der in einem Stillstand endet, welcher sich als Bild darstellt und sich damit wesentlich unterscheidet von seinen Objekten, die sich vor der Linse befunden haben: zeitlich wie räumlich. Auch die Fotografie liegt daneben und kommt zu spät, könnte man sagen.

Henri Ziegler: Gaspard Ziegler, 1841 Der Zeiger der Taschenuhr, die Gaspard Ziegler der Kamera vorhält, stehen auf 33 oder 34 Minuten nach 16 Uhr. Damit die Szene ihren Ausdruck finden konnte, dauerte es eine bis zwei Minuten. Was sich in der Daguerreotypie niedergeschlagen hat, ist die Dauer der Belichtung, eine ungefähre Tageszeit, nicht jedoch Tag und Monat. Seit 1841 zeigt das Bild dieselbe Zeit.
Henri Ziegler: Gaspard Ziegler, 1841 Quelle

Der Augenblick ist eine Erfindung der Fotografie und ihre Pose. Sie ist es in zweifacher Hinsicht: Indem sie eine Vorstellung liefert, bei der sie einen Stillstand als Teil der Bewegung inszeniert, als würde sie der Zeit Einhalt gebieten. Dazu ist ihr jeder Einschnitt in das Kontinuum recht, was darauf hinausläuft, dass sich ein Vorgang aus einer Summe von unbewegten Situationen zusammensetzen lässt. Die Chronofotografen der 1880er Jahre verleihen diesem Ansinnen Ausdruck, indem sie mehrere Bewegungsphasen aufnehmen und auf einer oder mehreren Platten ansichtig machen. Etienne Jules Marey bringt in einer Versuchsanordnung das Herz einer Schildkröte „während einer mehrstündigen Dauer zum Schlagen“ und macht von den Systolen Aufnahmen, die aneinander gereiht werden 6 – als wären die Bewegungen des Lebens in den Bildern des Stillstands aufgehoben. Im Film wird die Täuschung noch weiter verfolgt und auf die Spitze getrieben, indem ‚stehende' Bilder in rascher Folge vorgeführt werden, bis der Blick ihnen nicht mehr als einzelne zu folgen vermag und sie zu bewegten werden.

Die Pose benötigt aber ein Publikum, das den Vorwurf mit seinen irrealen Implikationen vergessen macht, sozusagen wahr nimmt, was ihm geboten wird. Dies bildet die andere Seite der Pose, den Part der Rezeption, wie ja analog die Projektion – vom Realen auf ein Späteres (durch den Fotografen), vom Bild auf ein Früheres (durch den Betrachter) – die Konstitution der Fotografie bestimmt. Roland Barthes hat diesen Teil identifiziert als „eine ‘Absicht' bei der Lektüre: wenn ich ein Photo betrachte, so schließe ich unweigerlich in meine Betrachtung den Gedanken an jenen Augenblick, so kurz er auch gewesen sein mag, mit ein, als sich etwas Reales unbeweglich vor dem Auge befand. Ich übertrage die Unbewegtheit des Photos, das ich vor Augen habe, auf die in der Vergangenheit gemachte Aufnahme, und dieses Innehalten bildet die Pose.“ 7

Was die Theatralik der Bildinszenierung angeht, mag man auf die Nähe der Fotografie zur Zauberei stoßen. Der Augenblick wird als fotografisches Bild dem Betrachter vorgehalten wie die Spielkarte des Zauberers, nachdem er sie aus dem Ohr seines Gegenübers gezogen hat. Alle Aktionen dieser gleichfalls stummen Kunst laufen auf den Akt des Zeigens hinaus. Die Haltung im Triumph beendet einen Vorgang, der im Dunkel gelegen hat. Das gezeigte Kartenbild verfügt über keinen Bezug zu dem, was an Manipulationen davor stattgefunden hat, und ebenso keinen zu den Zuschauern, die bestenfalls zubilligen, das Blatt sei einem ursprünglich geordneten Paket entnommen worden. Was vor der Präsentation der Karte geschehen ist, bleibt unergründlich oder Vermutungen anheim gegeben. Da wie dort – in der Fotografie wie in der Zauberei – handelt es sich um ein Kunst-Stück, begleitet von Geheimnissen, die sich hinter dem Augenschein verborgen haben.

Der Augenblick – als Bild – ist ohne Geschichte und ergibt keinen Sinn. Er kennt kein Vorher und Nachher, er zeigt in keine Richtung, hängt in der Luft und gleicht dem Scheitelpunkt, den der Tänzer im Sprung erreicht: An der höchsten Stelle heben sich Woher und Wohin, Hinauf und Hinunter auf. Es erfolgt ein Umschlagen von Zeit und Raum, ein scheinbarer Stillstand tritt ein. Oder auch wenn die Grenze zwischen Schlaf und Erwachen passiert wird und man nicht weiß, ob die Erscheinungen vor dem Auge oder in der Phantasie ansichtig sind. „Kein Bewusstsein kann sich als anfangend erleben. Nicht einmal beim alltäglichen Erwachen aus dem Schlaf ist jemals ein Augenblick der erste.“8 Auch der Augenblick des Erwachens ist ein unbestimmter, der sich im Vorgang verbirgt.

Die Fotografie unternimmt es, jeden Vorgang pathetisch zu unterbrechen und ein Jetzt ins Licht zu setzen, das niemals erlebt werden konnte. Auch deshalb machen manche Bilder erschrecken und erscheinen Figuren wie Gespenster. Die Fotografie ist ein Störfall, der mit Licht operiert. Als solcher bringt er Bewegung in unser Bild von der Welt, und die fotografische Pose des Innehaltens erscheint uns als Partikel vergangenen Lebens.

24.6.2008

© Timm Starl 2008

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