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„Die Augen werden einem wie gewaltsam entführt [...]“
(Ludwig Börne, 1822/23) 1

„Unsere Zeit leidet am Ausstellungsfieber.“
(Hermann Wilhelm Vogel, 1876) 2

Das 19. Jahrhundert liebte es, sich ins Bild zu setzen. Dazu fand und erfand es geeignete Mittel wie: die Ausstellung, das Schaufenster, die Fotografie – sie alle brachten die Zeugnisse des Fortschritts zur gefälligen Ansicht. Voraus gegangen war mit dem ausgehenden18. Jahrhundert eine andere Art zu schauen, sich einen Überblick zu verschaffen, indem die Erscheinungen der Welt aus anderer Perspektive und in anderen Konstellationen zueinander wahr genommen wurden: von der Gondel des Ballons aus wie von der Plattform des Panoramas, von der Spitze der Berge wie von den Aussichtsstuben der Türme. „Man muß die gebahnten Wege verlassen und Höhen ersteigen, von welchen das Auge eine Menge von Gegenständen mit einem Blick umschließen kann“, heißt die Losung, die Horace-Benedict Saussure 1776 ausgibt. 3

Mit der Betrachtung von oben und aus großer Entfernung sowie den weiträumigen Darstellungen im Panorama vervielfacht sich die Zahl der auszumachenden Objekte und zugleich verkleinert sich ihre Gestalt je nach dem tatsächlichen oder fiktiven Abstand vom Betrachterstandort. Auch entsteht eine Hierarchie in mehrfacher Hinsicht: Nur das Nahe lässt sich deutlich erkennen, während das Entfernte bis zur Unkenntlichkeit zurücktritt und bloß noch als Farbtupfer erscheint. Und nicht jedem ist der Zutritt zu den Plätzen mit solcher Aussicht möglich.

Dass die Sichtweise gegenüber früheren Epochen sich verändert hatte, wird an den neuen Standpunkten deutlich, die man sich erschloss. Panoramatische Ansichten kleineren Formats, gezeichnet oder gestochen, kannte man schon vor der Erfindung des Panoramas durch den Schotten Robert Barker im Jahre 1787. 4 Doch handelte es sich in der Mehrzahl um Horizontalansichten von Bergketten oder Stadtsilhouetten oder um Streckenbildkarten, die nur von einer begrenzten Zahl an Personen gleichzeitig angesehen werden konnten und deren Radius, sofern es sich um Rundsichten handelte, nicht über 180° hinausreichte. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts und verstärkt in dessen zweiter Hälfte nehmen die Künstler einen erhöhten Standpunkt ein, entdecken die Tiefe des Raumes und die Weite des Horizonts. Auch die Falt- beziehungsweise Längspanoramen, wenn sie Flussläufen oder Wegstrecken folgen, reihen die topografischen Ausschnitte, die sich aus mehreren fiktiven Positionen aus der Vogelschau ergeben haben, aneinander. Dies entspricht letztlich der Machart Barkers, wenn auch dessen einzeln hergestellte Bildabschnitte nicht einer Längsstrecke folgen, sondern einen Rundblick über 360° ergeben.

Robert Fulton: Erster Entwurf einer Panorama-Rotunde mit Betrachterplattform, 1799 Die waagrechte Blickebene der Besucher des Panoramas liegt nur geringfügig unter der Höhe der Bergrücken, als würden sie sich auf einer Erhebung befinden und von dort aus auf die Landschaft schauen.
Robert Fulton: Erster Entwurf einer Panorama-Rotunde mit Betrachterplattform, 1799, kolorierte Bleistiftzeichnung Quelle
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In dieselben Jahrzehnte am Vorabend des 19. Jahrhunderts fallen die Anfänge eines neuen Alpinismus und einer „immer planmäßiger betriebene[n] bergsteigerische[n] und wissenschaftliche[n] Erforschung der Bergwelt“ 5 , die 1786 mit der Erstbesteigung des Montblanc einen spektakulären Anfang setzt. Parallel erfolgt die literarische Erkundung der großen Höhe. Man denke an Goethes Schilderungen in den Briefen aus der Schweiz von 1779 und der „Italienischen Reise“ von 1786/88, wenn er immer wieder ergriffen ist von der Weitsicht, die sich ihm bei seinen Wanderungen in den Alpen eröffnet.

„Wollt Ihr wissen, wie Paris wirklich aussieht?“ fragt Louis Sébastien Mercier am Beginn seines Tableau de Paris von 1781: „Dann steigt auf die Türme von Notre-Dame.“6 Allerdings gewinnt er sein Bild der Metropole, das er in über 1.000 Kapiteln aufzeichnet, auf ebener Erde, indem er die Viertel und Häuser, die Geschäfte und Restaurants besucht und die Menschen, die dort und auf den Straßen ihren Berufen oder Vergnügungen nachgehen, beobachtet. Der Blick von oben bietet neue Einsichten in die Lage der Gebäude und Verkehrswege, doch bleiben es abstrakte Erscheinungen in der Art kartografischer Aufzeichnungen. Der interessierte Zeitgenosse mag Orientierung in den Über- und Fernsichten suchen, die genaue Kenntnis des Gesehenen verlangt jedoch, sich den Gegebenheiten auf Augenhöhe zu nähern.

Das sukzessive Kippen des Blicks – von der schrägen Sicht von oben in eine horizontale auf ebener Erde – vollzieht sich bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, wie auch die Begeisterung für die Ballonflüge zunehmend nachlässt. Der elitäre Standpunkt mit Sicht auf die originalen Sehenswürdigkeiten weicht dem Wunsch nach naher Anschauung beziehungsweise nach Wiedergaben, die einem größeren Publikum zugänglich sind. Die Kreationen eines Johann Carl Enslen stehen geradezu prototypisch für den geänderten Blickwinkel. Nachdem er eine Montgolfière gebaut hat, die am 15. Mai 1784 in Straßburg aufsteigt, fertigt er 1820 mit seinem Sohn ein Zimmerpanorama mit einer Dresdner Ansicht und führt im Frühjahr 1839 in Dresden „Lichtbilder auf photogenischem Papier“ vor.7

Johann Carl Enslen, Carl Georg Enslen: „Die Dresdner Neustadt vom Schlossturm aus gesehen“, Fragment eines Zimmerpanoramas, 1820 Johann Carl Enslen, Carl Georg Enslen: „Die Dresdner Neustadt vom Schlossturm aus gesehen“, Fragment eines Zimmerpanoramas, 1820, Deckfarbe auf Papier Quelle

Am Ende der Entwicklung wird die Erfindung von Daguerreotypie und Fotografie stehen, die Bilder aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln liefern kann. Wobei die Visionen und Ideen für das neue Medium seit den Anfängen einer anders gearteten Sichtweise zugegen waren. Tiphaigne de la Roche entwirft in einer utopischen Skizze seines Buches Giphantievon 1760 das Verfahren der Fotografie. Joseph Nicéphore Niépce' erste Überlegungen, die mit der Camera obscura gewonnenen Bilder für das Anfertigen von Wiedergaben heranzuziehen, datieren von 1793; er nimmt sie 1816 wieder auf und beginnt mit ersten Experimenten, die zunächst darauf ausgerichtet waren, für die 1797 von Alois Senefelder erfundene Lithografie Steine auf fotografischem Weg herzustellen.

Wie die Entwicklung der Reproduktionstechniken darauf abzielte, den Zeitgenossen die Progressionen der Kunst und Wissenschaft in möglichst hohen Auflagen bildmäßig nahe zu bringen, dienten die Industrie- und Gewerbeausstellungen dazu, eine Kundschaft für die aktuellen Erzeugnisse zu interessieren. Die erste größere Veranstaltung dieser Art findet 1898 in Paris mit der „Exposition des produits de l'Industrie français“ statt. Es beteiligen sich 110 Aussteller, die drei Tage gewerblich-industrielle und kunsthandwerkliche Erzeugnisse präsentieren. Der Umfang der nachfolgenden Ausstellungen nimmt ständig zu, bis 1839 mehr als 3.000 Aussteller ihre Stände an 60 Tagen frequentieren.8

Die gezeigten Gegenstände sind für die wenigsten erschwinglich, ebenso wie die in den Geschäften der ab 1786 in Paris errichteten Passagen angebotenen Waren.9 Um diese in Augenschein zu nehmen, muss die Kundschaft noch in das Lokal treten. Erst mit der Möglichkeit der Herstellung großer Glasscheiben werden Schaufenster installiert, in denen die Händler ihre Waren feilbieten.10 Die Einrichtung wird üblich und veranlasst Adalbert Stifter Anfang der 1840er Jahre zu der Äußerung: „[D]as Publicum ist so gewöhnt, dass man ihm alles so unmittelbar vor die Augen lege, [...] – daß es nichts kauft, wo dies nicht der Fall ist.“ Doch manch einer muss sich mit der Ansicht begnügen, denn „[d]iese Auslagen sind die lockendsten Mittel des Luxus und der Eitelkeit, darum stehen auch von Stunde zu Stunde die competentesten Richter vor denselben und urteilen, oder suchen sich aus, oder wünschen sich wenigstens.“11 So bietet sich um die Wende der 1830er zu den 40er Jahren den Zeitgenossen auf seltsam analoge Weise eine Welt, die ihm nahe gebracht wird, wobei er sich gleichzeitig auf seine Verhältnisse zurückgeworfen sieht. Hinter der Auslagenscheibe wie hinter der mit Glas geschützten Daguerreotypie befinden sich Dinge nahe vor seinen Augen, die er nicht fassen kann. Zugleich spiegelt sich – bei Wechsel der Fokussierung des Blicks beziehungsweise indem die Daguerreotypie in frontale Position gebracht wird – das eigene Gesicht.

Auch wenn der Zugang zu den neuen Medien aus heutiger Sicht noch ein privilegierter war, so kann dies nicht verdecken, dass hinter all diesen Novitäten am Ausgang des 18. und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Anstrengungen und Bedürfnisse einer neuen gesellschaftlichen Schicht stehen. Was Stephan Oettermann für das Panorama in Anspruch nimmt, wenn er es als „die bürgerliche Antwort auf die obsolet gewordenen und verkrusteten Formen feudaler Kunst“ ansieht,12 gilt analog für die Möglichkeiten, sich Übersicht und Information durch eigene Anschauung oder über Bilder zu beschaffen, die möglichst vielen zugänglich sind. Industrie­ausstellung – jene von 1898 verstand sich auch als Feier zur Gründung der Republik – und Schaufenster zielten primär auf eine bürgerliche (und betuchte) Klientel, ebenso wie die Umwandlung der privaten Sammlungen in öffentlich zugängliche Institutionen und die Einrichtung von Museen, die 1759 mit dem British Museum und 1793 mit dem Louvre beginnt.

Das Entfernte und Fremde vor Augen zu führen, es mit der Herausstellung als Besonderheit zu bezeichnen, die unterschiedlichsten Dinge nebeneinander zu stellen – dies sind die gleich gearteten Funktionen von Ausstellung, Schaufenster und Fotografie. Zugleich wird, indem sich die Gegenstände unter demselben Dach befinden, eine Homogenität angedeutet, und zwar innerhalb von Institutionen beziehungsweise eines Mediums, die der Heterogenität verpflicht sind: Museum, Kaufhaus und Kamera, die alles ohne Unterschiede festhält, was ihr vor die Linse geraten ist. Zugleich entledigen sich die Objekte ihrer Geschichte – jene der technischen Verfertigung, der Interessen der Produzenten, der Wege, die sie zurückgelegt haben – und figurieren als Neuheiten, die ihre Bedeutung über das beziehen, was neben ihnen steht, liegt, hängt oder abgebildet ist. Zugleich bedeutet das Zeigen immer auch ein Ausschließen dessen, was das Objekt an seinem aktuellen Standort einschließt, ohne es sichtbar werden zu lassen: Sammlungsstücke, die im Archiv des Museums lagern; Ware, die das Geschäft noch vorrätig hat; Erscheinungen, die sich außerhalb des gewählten Bildausschnitts befinden.

Während die beiden Einrichtungen mit Originalen operieren, kann die Fotografie bloß mit deren bildlicher Wiedergabe aufwarten. Ist es den ersteren um das Anbieten von Ware zu tun, zu deren Kauf sie locken, bietet sich das fotografische Bild als Ersatz an und ist als Objekt käuflich. Um auf dem Markt zu reüssieren, bedienen sich Daguerreotypie und Fotografie derselben Mittel wie die industriellen und gewerblichen Hervorbringungen, aber auch solche der Wissenschaften und Künste. Kaum erfunden, finden die Bilder den Weg in private und öffentliche Darbietungen von Vereinen und Zirkeln, von Unternehmen und Geschäftsleuten.

William Henry Fox Talbot zeigt erstmals am 25. Januar 1839 in London photogenische Zeichnungen in der Bibliothek der Royal Institution. 13 Hippolyte Bayard präsentiert 30 Exemplare seiner Direktpositive auf Papier am 17. Juli 1839 in Paris im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstaltung. 14 Die Vossische Zeitung vom 19. August 1839 – am selben Tag wird Daguerres Verfahren in Paris öffentlich gemacht – meldet, was im Münchner Kunstverein unter anderem zu sehen sei: „[...] zwey Lichtzeichnungen mittels der Camera obscura nach der Methode Kobells und Steinheils; sie stellen im kleinen und ganz kleinen Maßstabe ein Duplikat der Glyptothek vor [...]“ 15 Louis Jacques Mandé Daguerre schenkt dem österreichischen Kaiser und dem Staatskanzler Metternich zwei seiner Ansichten, die nicht einmal zehn Tage nach Veröffentlichung des Verfahrens vom 28. bis 30. August in der Wiener k.k. Akademie der bildenden Künste vorgeführt werden. 16  Kunsthandlungen und Optiker offerieren Kameras und Lichtbilder aus Paris und erste Versuche von ortsansässigen oder reisenden Daguerreotypisten. Nachdem ab 1841 von immer mehr Personen die Anfertigung von Porträts zunehmend professionell betrieben wird, werben sie für ihre Leistungen, indem sie Schaukästen vor den Gebäuden anbringen, in denen sich das Atelier befindet, und diese mit ausgewählten Exemplaren bestücken.

Meade Brothers' Daguerreotype Gallery in New York, um 1853 Meade Brothers' Daguerreotype Gallery in New York, um 1853 Quelle

Auf der ersten Weltausstellung von 1851 in London und sämtlichen nachfolgenden Veranstaltungen verfügen die Daguerreotypisten und Fotografen, die Produzenten von Kameras und Objektiven über eigene Bereiche. Dort werben manche nicht nur für sich, sondern zugleich für die Ausstellung, indem sie Aufnahmen bereit halten, auf denen die Adaptierung des Geländes sowie die Gebäude während der Errichtung und im fertigen Stadium festgehalten sind. Auf der „Exhibition of the Works of Industry of All Nations“ von 1851 erhält der langjährige Partner von Talbot, Nicolas Henneman den Auftrag,

Jean-Baptiste Louis Gros: Blick in den Kristallpalast auf der Weltausstellung in London, September 1851 Jean-Baptiste Louis Gros: Blick in den Kristallpalast auf der Weltausstellung in London, September 1851, Daguerreotypie Quelle
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Ansichten des Crystal Palace, in dem die Schau stattfindet, anzufertigen. 18 Später werden Fabrikanten statt ihrer Produkte dem Publikum fotografische Wiedergaben derselben präsentieren, die sie in Auftrag gegeben hatten, wenn der Transport der Originale zum Ausstellungsort nicht möglich oder zu kostspielig war. Und auch die reisenden Agenten belasten sich vielfach nicht mehr mit einer vollständigen Kollektion, sondern zeigen ihrer Kundschaft Muster in fotografischer Ansicht.

Louis Jacques Mandé Daguerre: Coquillages, 1839 William Henry Fox Talbot: „A Scene in a Library“, 1844
Louis Jacques Mandé Daguerre: Coquillages, 1839, Daguerreotypie Quelle William Henry Fox Talbot: „A Scene in a Library“, 1844, Kalotypie Quelle

Bereits die Pioniere thematisieren das Vorführen in Bildern, wenn sie Bücher in Stellagen oder Porzellanwaren auf Regalen – wie Talbot – oder fossile Muscheln und Schnecken, – wie Daguerre – ablichten. Diese frühen Exemplare bildlicher Vorführung mögen sich als Experimente verstehen, mit denen nach den Möglichkeiten fotografischer Dokumentationen gefahndet wurde, doch ist in solchen Bildentwürfen bereits das Modell positivistischer Registrierung angelegt. Bald darauf werden die ersten Aufträge für solcherart Vorhaben erteilt. Alexander von Minutoli, Gewerbedezernent im schlesischen Liegnitz, legt ab den beginnenden 1840er Jahren eine Mustersammlung von gewerblichen Erzeugnissen an, lässt davon Daguerreotypien herstellen, um nicht die Originale verleihen zu müssen, und Anfang der 1850er Jahre die Sammlung durch den ortsansässigen Lichtbildner Ludwig Belitsky fotografisch dokumentieren. 19

Ludwig Belitski: Gläser aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert, Liegnitz, vor 1855

 

Ludwig Belitski: Gläser aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert, Liegnitz, vor 1855, Salzpapier Quelle
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Fürderhin gibt es nahezu keinen Bereich des Sammelns und Forschens, der Produktion von Künstlern und Architekten, der Warenwelt und der militärischen Utensilien, von dem die Fortschritte in Wissenschaft, Kunst und Industrie nicht als fotografische Wiedergaben festgehalten und einem Publikum zur Ansicht geboten werden.

Was den Unikaten der Daguerreotypie nur eingeschränkt möglich und erst die Fotografie mit ihren nahezu unbeschränkten Möglichkeiten der Vervielfältigung eigen ist: Sie vereinigt alle Facetten der Schaustellung, indem sie einzelne oder mehrere Objekte gleichen oder unterschiedlichen Genres nebeneinander abzubilden vermag. Gegenüber Ausstellung und Schaufenster hat sie den Vorteil eines größeren Publikums, das zudem nicht zum Standort der Objekte kommen muss, sie lässt die Abzüge zirkulieren, so dass Personen an verschiedenen Orten gleichzeitig teilhaben können. Zugleich ist die Fotografie Propagandist der Dinge, derer sie sich angenommen hat, wie des Mediums selbst, das Nähe herzustellen vermag, so entfernt die abgebildeten Dinge auch sein mögen.

Die Fähigkeit der Fotografie, die das Ausstellen – im Bild und als Bild – wie kein anderes Medium beherrscht, nutzen die Kuratoren von heute extensiv bei der Vorbereitung von Fotoausstellungen. Als erster Schritt wird gewöhnlich die Bibliothek konsultiert und aus den in Büchern und Katalogen wiedergegebenen Fotoarbeiten eine erste Auswahl getroffen. Einer der Nachteile dieser Vorgehensweise liegt darin, dass der Vorzug den bereits mehrfach veröffentlichen Arbeiten gegeben und unbekanntes Material nur selten berücksichtigt wird. Dabei nimmt man in Kauf, dass die Reproduktionen in mehrfacher Hinsicht den Vorlagen nicht entsprechen müssen, was Farbe und Format betrifft. Nicht nur sind oftmals Farbaufnahmen schwarzweiß gedruckt, oder es bestehen Differenzen in den Tönen, sondern häufig sind die Ränder beschnitten, um einem Layoutentwurf zu folgen, ist ein vom Fotografen gewählter oder vom Leihgeber verlangter Rahmen nicht mit abgebildet oder dieser Wunsch ebenso nicht angegeben wie das Jahr, aus dem der Abzug stammt und wer ihn ausgeführt hat. Diesbezügliche Rückfragen bei den Besitzern des Originals werden gewöhnlich nicht eingeholt, die potentiellen Leihgeber zur Autopsie meist nur aufgesucht, wenn sich die Sammlung in der Nähe befindet.

Am Ende dieser Vorauswahl stehen Arbeitskopien: Reproduktionen nach den Abbildungen in den Publikationen, wobei eine grobe Rasterung möglichst nicht kenntlich sein soll, also gelegentlich eine Unschärfe ins Bild gebracht wird, die dem originalen Stück nicht eigen ist. Auch werden bei der Anfertigung nicht höchste fotografische Ansprüche geltend gemacht, die genauen Bildmaße der Vorlagen sind meist nicht angegeben. Die Bewertung der Bilder und die weitere Selektion erfolgen also nach ungenauen Vorlagen, wobei in erster Linie vom Motiv ausgegangen wird und die Verluste nach zweifacher Reproduktion unbeachtet bleiben. Überdies weisen die Arbeitskopien gleiche Maße auf, bewirken also einen ‘Gleichklang', der im Nebeneinander der originalen Abzüge nicht auftreten würde.

Diese Nivellierung findet ihre Entsprechung in einer Präsentation mit meist gleich großen Rahmen und gleichartigen Passepartouts, deren Form, Material und Farbe einen Zusammenhang herstellt, der sich vornehmlich dem Geschmack des Kurators verdankt. Oder es wurde innerhalb einer Institution eine generelle Linie vorgegeben, so dass die Vorliebe des Sammlungsleiters oder Kostengründe für die Ausstattung verantwortlich sind. Die Hängung der Exponate in gleicher Höhe mit Anbringung der Bildunterschriften an jeweils gleicher Stelle und die Empfehlung eines Parcours, dem das Publikum folgen sollte, zielen auf etwas wie einen durchschnittlichen Betrachter beziehungsweise propagieren eine einheitliche Lesart für die gesamte Schau. Die quasi militärische Ordnung veranlasst gewissermaßen zu einem Abschreiten der vorgegebenen Formation oder auch zu einem gedankenverlorenen Bummel entsprechend dem Besuch von Messen und Weihnachtsmärkten mit ihren zumeist gleichartigen Kojen. Das Hintereinander einzelner Exponate ermuntert eher zum Weitergehen als zum Anhalten.

Die Gleichförmigkeit bei der Schaustellung von Fotografien hat seinen Ursprung im beginnenden 20. Jahrhundert, als das serielle Moment verstärkt Eingang in die industrielle Produktion, aber beispielsweise auch seinen Ausdruck in neuartigen illustrierten Publikationen findet. In den Montagehallen von Henry Ford wird das Fließband installiert, das den Arbeiter ständig mit identischen Teilen konfrontiert und dieselben Handgriffe erfordert. 20 Die Architekten befreien den Wohnungs- und Geschäftsbau vom ornamentalen Ballast des vorangegangenen Jahrhunderts und bemühen sich um „eine neue Einfachheit“, wie es Adolf Behne in einem Kommentar zu einem Berliner Wohngebäude von Bruno Taut 1914 sieht. 21 Als Kompositionsprinzip setzt sich die Wiederholung in manchen Musikstücken von Erik Satie oder Igor Strawinsky durch. Die Hervorbringungen der Serienfertigung finden als Belege der Progression Eingang in die Technikmuseen, die Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet werden, und als Objekte der Kunst den Weg in die Galerien, wofür die ersten Ready mades von Marcel Duchamp zeugen.

Anonym, Centennial Photographic Company: Photographer's Hall auf der Philadelphia Centennial, 1876

 

Anonym, Centennial Photographic Company: Photographer's Hall auf der Philadelphia Centennial, 1876 Quelle
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Die gleiche Form hält auch Einzug in die Wohnungen der Zeitgenossen, wenn Mobiliar und Gebrauchsgegenstände mehr und mehr nach der Maßgabe einfacher Machart, rationeller Fertigung und großer Auflage produziert werden. Nicht zuletzt hat sich der Geschmack um die Jahrhundertwende insbesondere auch in der Gestaltung des häuslichen Bereichs geändert. Befangen vom horror vacui der Gründerzeit empfiehlt Jacob von Falke 1877 für den Salon – den Raum, in dem Gäste empfangen werden und die Wohnungsinhaber mit der Einrichtung ihren Status dokumentieren wollen – „moderne Bilder mit ihrem lebhafteren, bunteren Colorit“ und plädiert für „Mannigfaltigkeit“ sowie „Reichthum des Schmuckes und der Ausstattung“. 22 Demgegenüber gilt 1910 „Sauberkeit, Helligkeit und Ordnung“ sowie „Schlichtheit“ für Joseph August Lux als erstrebenswert, und er rät: „Nicht zuviel sollen wir an unsere Wände hängen, aber das Wenige in guter Sichtbarkeit, nicht zu hoch, aber an gut belichteter Stelle und in guter Einteilung [...]“ 23 Für Fotoausstellungen propagiert die Photographische Kunst bereits 1905: „Es wird überhaupt möglichst nur in einer Reihe zu hängen sein.“ 24

Das Nacheinander des Betrachtens von Bildern wird zur geläufigen Art, die nicht mehr auf einen suchenden Blick abhebt, sondern der vorgegebenen Reihung folgt. Der Bildband kommt in eben jenen Jahren auf und löst das Mappenwerk ab. Konnte man bei diesem die einzelnen Blätter noch in beliebiger und wechselnder Anordnung vor sich ausbreiten, gibt das Buch die Reihenfolge vor. Die sequentielle Sichtung löst einen selektiven Zugang ab.

Alfred Stieglitz: Ausstellung Edward Steichen in der Photo-Secession Gallery in New York, 1906 Alfred Stieglitz: Ausstellung Edward Steichen in der Photo-Secession Gallery in New York, 1906, Platindruck Quelle
Hanns Friedmann: „Ein moderner photographischer Ausstellungssalon“, 1906

 

Hanns Friedmann: „Ein moderner photographischer Ausstellungssalon“, 1906, Entwurf Quelle
Anonym: „Internationale Photographische Ausstellung, Dresden 1909 Anonym: „Internationale Photographische Ausstellung, Dresden 1909. Der Raum Hugo Erfurth-Dresden“ Quelle
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Die Anordnung von Bildern in einer Reihe auf Augenhöhe wird ebenso für die privaten Räume wie für die öffentlichen Darbietungen als modern und dem ‘Stil der Zeit' angemessen empfunden. Zugleich wird, von amerikanischen Amateurgruppierungen ausgehend, eine Vereinheitlichung und Vereinfachung der Rahmung propagiert. Die oftmals in manueller Einzelfertigung hergestellten, kunstvollen Rahmen werden abgelöst von solchen mit schmalen einfarbigen Holzrahmen. 25 Die Betonung jedes einzelnen Werkes durch die Besonderheit seiner ‘Verpackung' weicht einer schmucklosen Darbietung, die nicht von den kompositorischen Aspekten des Bildes ablenken soll. So repräsentieren die andersartigen Inszenierungen zwei entgegenstehende Tendenzen, wie Neuheiten oft noch Teile jener Erscheinungen enthalten, die sie ablösen. Einerseits finden die Stereotypie der Hängung und die Schmucklosigkeit der Rahmung als Elemente der Massenfertigung Einzug in die Schauräume der Fotografie. Andererseits zeichnet die Vertreter der piktorialistischen Richtung, die seit den 1890er Jahren in fotokünstlerischen Kreisen den Ton angibt, insbesondere aus, dass mit den oft in mehreren Arbeitsgängen fabrizierten Edeldrucken Einzelstücke hervorgebracht werden, die handwerkliche Könnerschaft verlangen. 26 Damit grenzen sie sich ab gegenüber den massenhaft hergestellten Waren aus industrieller Fertigung. Zunehmend treten neben die Veranstaltungen der fotografischen Gesellschaften und Vereine, die immer als Zusammenschau und den Vergleich der Leistungen ihrer Mitglieder ausgerichtet sind, Einzelausstellungen, in denen führende Repräsentanten jeweils ihre Werke vorführen.

Zu den ersten Veranstaltungen dieser Art gehört die Vorführung von Fotografien Hugo Erfurths auf der als „Weltausstellung der Photographie“ bezeichneten, groß angelegten Veranstaltung mit 1.600 Ausstellern in Dresden 1909. 27 Ihm werden eigene Räumlichkeiten zugestanden, in denen er seine Arbeiten einreihig nebeneinander platziert. Doch Anzeichen von Uniformität zeigen sich auch in anderen Sektionen. Auf den Ständen der österreichischen Abteilung dominiert eine Anordnung in zwei übereinander liegenden Reihen mit gleich hohem Abschluss nach oben oder unten. Der Entwurf stammt von Otto Prutscher, einem Vertreter Wiener Jugendstils, dessen Bildpräsentation in gestalterischem Einklang mit seinen kunstgewerblichen Kreationen steht.

Hugo Erfurth: „Koje der k. k. Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien“, Internationale photographische Ausstellung, Dresden 1909 Hugo Erfurth: „Koje der k. k. Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien“, Internationale photographische Ausstellung, Dresden 1909 Quelle

Manche Fotokünstler von heute verweigern sich der stereotypen Einvernahme ihrer Werke und wählen Formen, die sich der Einordnung in das üblich Schema widersetzen. Vor allem mit der Größe der Abzüge wird ein besonderer Platz in Anspruch genommen, der mehr Beachtung verlangt und mit der Geste des Repräsentativen bereits vorab eine bestimmte Sichtweise provoziert. Der Ausstellungsbesucher muss den gewohnten Pfad verlassen und zurücktreten, um die Arbeit in ihrer Gesamtheit erfassen zu können. Er rezipiert das Bild wie ehemals – und heute noch in den Museen – die großen Gemälde, und den großformatigen Werken haftet immer auch der Ruch an, sie gehörten ins Museum – oder in die Vorstandsetagen von Banken und anderen Sponsoren, wie vielfach kolportiert wird. Insbesondere wenn der gestalterische Aufwand unbedeutend, der Inhalt banal ist, drängt sich ein solcher Verdacht auf. 28

Ich meine aber im Besonderen den Kanadier Jeff Wall, dessen Bilder sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen kritisch auseinandersetzen, wobei die Art der Vorführung eine Dramatisierung der Argumentation im Bild wie als Kunstobjekt bewirkt. Die etwa 2 x 3 Meter großen Cibachrom-Diapositive werden in einer Art Schaufenster präsentiert, ähnlich heiklen Objekten in naturkundlichen und technischen Museen, die hinter Glas gehalten werden, und von hinten beleuchtet. 29

Die Größe des Bildes verlangt einen gewissen Abstand zum Exponat, während der Charakter der Auslage und das aus ihr kommende Licht animieren, näher zu treten, zumal sich erst dann die Vielfalt der Details der Inszenierung – es handelt sich bei diesen Arbeiten Walls durchwegs um gestellte Szenen – erschließt. Abgesehen von der inhaltlichen Ausrichtung der dargestellten Situation stellen sich die Schaukästen Walls gegen eine Institutionalisierung nach bürokratischen Mustern, die das Ausstellungswesen im fotografischen Sektor seit den 1980er Jahren zunehmend beherrscht. Zugleich wird das Ausstellen thematisiert: im Sinne des Herausstellens, was die Form der Präsentation betrifft, und im Sinne des Sich-Exponierens, was die Darstellung vor der Kamera angeht, die nicht nur eine der Akteure ist, sondern des Künstlers, der diese zu einem Lebenden Bild vereint.

Jeff Wall: „Picture for Women“, 1979 Jeff Wall: „Picture for Women“, 1979 Quelle

23.9.2008

© Timm Starl 2008

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