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„Modern! Modern!
Was will das Wort sagen [...]“
(Julius Schaumberger, 1891)1

Etienne Jules Marey: Flug einer Kugel, vor 1893 Etienne Jules Marey: Flug einer Kugel, vor 1893 Quelle

Das Neue Sehen der 1920er Jahre wird seit geraumer Zeit gerne als klassische Moderne der Fotografie geortet, ihren Vertretern das Etikett der Avantgarde angeheftet. Von „den klassischen Jahren der fotografischen Moderne“ spricht beispielsweise der Sammler Jürgen Wilde in einem Ausstellungskatalog von 1995.2 Der Schweizer Fotohistoriker Martin Gasser erkennt einen „Durchbruch der Moderne um 1930“.3 Und Van Deren Coke, Kurator am Museum of Modern Art in San Francisco, veröffentlicht 1982 eine Anthologie unter dem Titel Avantgarde Fotografie in Deutschland 1919–1939, die er folgendermaßen einleitet: „In den 1920er Jahren dieses Jahrhunderts brach eine neue Generation deutscher Fotografen mit entscheidenden Traditionen ihres Mediums.“4

Doch die beiden Begriffe treffen ihren Gegenstand nur ungenau. Folgt man der Zuschreibung des Literaturwissenschaftlers Peter Bürger, dann handelt es sich bei der Avantgarde um „eine Bewegung, die über das Ästhetische hinaus auf radikale gesellschaftliche Veränderung abzielt [...]“5 , was auf die Protagonisten des Neuen Sehens kaum zutrifft. Ihnen ging es um wenig mehr als um neue Blickwinkel, aus denen sie Personen und Dinge ins Bild setzten. Aber auch als modern – im Sinne von neuartig – können ihre Produkte nur zu geringem Teil kategorisiert werden. Die Auf-, Unter- und Schrägsichten, die Fragmentierungen und Nahsichten wurden ebenso bereits im 19. Jahrhundert praktiziert, wie man Fotogramme und Fotomontagen herstellte, wobei diese unter anderen Begriffen – wie Naturselbstdruck oder Kombinationsbild – auftraten. Auch die vielfach bevorzugten Motive aus Großstadt und Technik gehörten seit der Erfindung des Mediums zum ständigen Repertoire der Lichtbildner.

Neu in den 1920er Jahren waren lediglich der Foren der Vermittlung, als welche Ausstellungen, Bücher und Zeitschriften fungierten. Die Stuttgarter Ausstellung des Deutschen Werkbundes „Film und Foto“ – eine reduzierte Auswahl wurde auch in Berlin, München, Wien und an anderen Orten gezeigt – propagierte die „neusachliche Fotografie“, wie sie damals in Anlehnung an der Malerei genannt wurde, als internationale Erscheinung und versammelte rund 1.200 Werke von etwa 200 Bildautoren, darunter die wesentlichen Exponenten der ‘neuen Richtung’. In Magazinen wie Der Querschnitt oder Uhu, in Kunstzeitschriften wie Die Form oder Das Neue Frankfurt, aber auch in der illustrierten Massenpresse wie der Berliner Illustrirten Zeitung fanden deren Hervorbringungen Platz und Aufmerksamkeit. Buchpublikationen wie Malerei, Photographie, Film von László Moholy Nagy (1925), Die Welt ist schön von Albert Renger-Patzsch (1928), Es kommt der neue Fotograf von Werner Gräff (1929) und Foto-Auge, herausgegeben von Franz Roh und Jan Tschichold (1929) verkündeten den Anfang einer Ära neuer Sehweisen.6 „Entscheidend für die kommende Photographie ist das Neue Sehen!“ verkündete am Ende des Jahrzehnts einer der Kommentatoren.7

Das 19. Jahrhundert bediente sich anderer Vermittlungsformen. Fotografische Bilder zirkulierten in originalen Abzügen als Einzelstücke, in Alben und Mappen oder in Bücher eingeklebt, bevor die Autotypie eine gemeinsame Wiedergabe von Text und Bild in Druckerzeugnissen erlaubte. Mit dem Aufkommen der fotografischen Bildpostkarte in den 1890er Jahren übernahm diese die Verbreitung vor allem topografischer Motive. Die Fachpresse kam zunächst ohne, später mit spärlicher Illustrierung aus. Zudem verstanden sich die Journale als Organe von fotografischen Gesellschaften und Klubs und richteten sich entweder an professionelle Fotografen oder an Amateure, selten an beide Gruppierungen. Es dominierten Texte zu Verfahren und Anwendungen, zur Fototechnik und Fotochemie, zur Atelierausstattung, Fotoausrüstung und Dunkelkammerarbeit. Ästhetische Fragen fanden ebenso selten Beachtung wie solche zu Bildthemen und -motiven. Die Ausstellungen führten zumeist das gesamte Spektrum der aktuellen Bildproduktion und der Industrieerzeugnisse vor, die Werke von Berufs- und Liebhaberfotografen wurden in getrennten Sektionen gezeigt, desgleichen Beispiele aus der wissenschaftlichen Fotografie. Nach 1900 kamen da und dort Veranstaltungen dazu, die sich speziellen Anwendungen widmeten.8 Die Reaktion der Tages- und Wochenpresse war gegenüber anderen kulturellen Ereignissen vergleichsweise gering; die seltenen Bildbeigaben zu den Berichten begnügten sich mit Ansichten des Ausstellungsgeländes oder einzelner Pavillons, Wiedergaben von Exponaten fanden sich nicht allzu oft in den Blättern.

Einzig die Ausstellungen der amateurfotografischen Vereine und in gewissem Maße deren Publikationen vereinigten ab den 1890er Jahren Bilder zur „künstlerischen Photographie“ unter einem Dach. Doch die Gemeinsamkeiten dieser Hervorbringungen der Jünger des Piktorialismus erschöpften sich weitgehend in der Anwendung von Edeldruckverfahren, mit denen Farbtöne und Unschärfe in die Bilder gebracht wurden, sowie im Ausschluss von Themen wie Industrie und Technik. Zudem sprachen die Bildautoren, Ausstellungsmacher und Publizisten ein begrenztes Publikum aus den Kreisen des Bildungsbürgertums an, und entsprechend blieben diese Erzeugnisse einer breiten Öffentlichkeit vorenthalten. Insgesamt lässt sich sagen, dass sich die Distribution fotografischer Bildwelt bis zum Ersten Weltkrieg unter der Maßgabe partikularer Interessen von Herstellern und Institutionen vollzog: Fotoindustrie, Kunst- und Fotohandlungen, fotografische Vereinigungen, Foto- und Postkartenverlage gaben den Ton an. Indem jede Neuheit als Fortschritt und für sich gesehen wurde und an unterschiedlichen Stellen und mit ungleicher Intensität der Öffentlichkeit vorgesetzt wurde, ergab sich ebenso keine stringente Übersicht zur Bildproduktion, wie auch einzelne Lösungen im Meer der Novitäten untergingen oder durch entlegene Bekanntmachung nicht auffällig wurden.

Wollte man eine Moderne der Fotografie innerhalb ihrer Geschichte seit 1839 positionieren, so dürfte man nicht so vorgehen wie die Propagandisten des Neuen Sehens der 1920er Jahre. Denn maßgebend sollten nicht die Zusammen- und Weiterführung bereits früher gefundenen Bildlösungen sein, sondern die Entwicklung von Verfahren und Techniken innerhalb eines engen Zeitraumes, die andersgeartete Sichtweisen ermöglichten und provozierten und zugleich über die medialen Relevanzen hinausgingen, also gesellschaftliche Verhaltensweisen beeinflussten. Ein Medium wie die Fotografie, die nicht nur Kunstwerke hervorbringt, sondern auch dokumentiert, archiviert, Material für wissenschaftliche Forschungen und Bilder zum privaten Gebrauch bereitstellt, benötigt einen anderen Begriff der Moderne, der nicht allein nach ästhetischen Kriterien seine Bestimmung erfährt.9 Unter diesem Gesichtspunkt böten sich die 1880er/90er Jahre als zutreffende Phase an. Nicht von ungefähr – ohne dass ich dem Zeitpunkt besondere Bedeutung zumesse – wurde der Begriff der Moderne im deutschen Sprachraum zum ersten Mal 1886 verwendet, wenn auch für Erzeugnisse der Belletristik.10 Aber bringen literarische Texte nicht auch Bilder hervor?

Für wesentlicher erachte ich, dass sich in den beiden Jahrzehnten des Fin de siècle in den Bereichen der sozialen Interaktion neue Möglichkeiten auftaten, die entscheidende Faktoren für die Konstitution des 20. Jahrhunderts abgeben sollten. In aller Kürze und ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Elektrifizierung der Wohn- und Arbeitsräume sowie der Verkehrsmittel, Übermittlung von Mitteilungen über Telefon und von Musik über Grammophon, Information und Unterhaltung durch die gedruckten Bilder der Autotypie und die bewegten des Films, Offenlegung des Inneren des menschlichen Körpers mittels Röntgenapparat und der seelischen Zustände mittels Psychoanalyse. Nicht zuletzt fanden manche Maler des Impressionismus andersgeartete Perspektiven – bis hin zu Schrägsichten von oben – für die Erscheinungen des urbanen Lebens.

Gleichzeitig und teilweise Hand in Hand mit diesen Errungenschaften auf ganz unterschiedlichen Feldern des Daseins der arbeitenden und sich regenerierenden Zeitgenossen kamen Neuerungen in diversen Bereichen der Fotografie auf, die gleichfalls in eine neue Zeit wiesen: Kurzzeit-, Chrono-, Röntgen-, piktorialistische und private Fotografie eröffneten nicht nur neue Anwendungen in Wissenschaft und Kunst, Industrie und Alltag, sondern erweiterten auch erheblich das Spektrum der medialen Bildwelt. Die Studien mit übereinander gelegten Negativen von Bildnissen mehrerer Personen, die Francis Galton in den 1880er Jahren anstellte, führten die Mehrfachbelichtung nicht nur in der Porträtdarstellung ein, wie die auf einer Platte festgehaltenen Bewegungsabläufe durch Etienne-Jules Marey in derselben Dekade Dauer- und Mehrfachbelichtung für die physiologische Forschung nutzbar machten. Marey war es auch, der die ersten abstrakten Bilder der Fotografie vorlegte11 – sieht man von den Ergebnissen der Mikrofotografie ab. Die Vertreter des Piktorialismus brachen das Diktat der Schärfe als hervorragendes Qualitätsmerkmal fotografischer Aufzeichnung. Die Knipser nahmen die Kamera in die Hand, um sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen und nicht mehr auf die Produkte der Atelierfotografen und ihrer reisenden Kollegen angewiesen zu sein.

Im Anhang soll noch auf einer anderen Ebene argumentiert werden – nicht im Sinne einer linearen Betrachtung, wie es unter manchen Kunsthistorikern beliebt ist, wenn sie immer wieder auf Vorbilder rekurrieren. Sondern ich möchte auf die Kreativität der Fotografen des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg hinweisen – auch wenn es sich manchmal um Einzelfälle handelte –, die viele kompositorischen Elemente vorweg genommen hatten, welche später die Vertreter des Neuen Sehens für sich reklamierten. Dass heute solche Gegenstellungen möglich sind, liegt auch an einem Stand historischer Aufarbeitung des Mediums, der in den 1920er Jahren noch nicht annähernd erreicht war. Andererseits verdeutlichen die Beispiele, dass damals mehr auf jene Phänomene der Vergangenheit geachtet wurde, von denen man sich distanzierte – wie beispielsweise die stereotypen Inszenierungen von Porträts –, als auf das progressive Potential, das sich daneben entwickelte hatte und oftmals dahinter verborgen geblieben war.

L. Gimpel: „Autoportrait à travers une glace déformante“, um 1900 André Kertész: Verzerrtes Porträt, 1927
L. Gimpel: „Autoportrait à travers une glace déformante“, um 1900 Quelle
André Kertész: Verzerrtes Porträt, 1927 Quelle

 

Adolphe Bilordeaux: Main drapée, 1864 Alfred Stieglitz: Hand von Georgia O’Keeffe, 1918
Adolphe Bilordeaux: Main drapée, 1864 Quelle
Alfred Stieglitz: Hand von Georgia O’Keeffe, 1918 Quelle

 

William Henry Fox Talbot: Muschel, um 1841 Edward Weston: Zwei Muscheln, 1927
William Henry Fox Talbot: Muschel, um 1841 Quelle Edward Weston: Zwei Muscheln, 1927 Quelle

 

Joseph-Philibert Girault de Prangey: „Temple de Minerve, Athènes“, 1842 m
Joseph-Philibert Girault de Prangey: „Temple de Minerve, Athènes“, 1842 Quelle
Walter Hege: Kapitell aus der Vorhalle der Propyläen, Athen, 1928/29 Quelle

 

William Notman: „Victoria Bridge over the River St. Lawrence“, 1859 Walker Evans: „Brooklyn Bridge, 1929
William Notman: „Victoria Bridge over the River St. Lawrence“, 1859 Quelle Walker Evans: „Brooklyn Bridge, 1929 Quelle

 

Alvin Langdon Coburn: „The Octopus“, New York 1912 László Moholy-Nagy: Blick vom Berliner Funkturm im Winter, 1928
Alvin Langdon Coburn: „The Octopus“, New York 1912 Quelle László Moholy-Nagy: Blick vom Berliner Funkturm im Winter, 1928 Quelle

 

Henri Rivière: La Tour Eiffel en construction, 1888/89 Robert Delaunay: Tour Eiffel, 191 Germaine Krull: Eisenkonstruktion, um 1928
Henri Rivière: La Tour Eiffel en construction, 1888/89 Quelle Robert Delaunay: Tour Eiffel, 1910 Quelle Germaine Krull: Eisenkonstruktion, um 1928 Quelle

 

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The Valentine & Sons Publishing Co.: „A few of Winnipeg’s Handsome Buildings“, 1912 Quelle Paul Citroen: Metropolis, 1923 Quelle

 

6.4.2010

© Timm Starl 2009

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