"Pierrot mit dem wächsernen Antlitz
[...] bemalt sein Gesicht im erhabenen Stil
Mit einem phantastischen Mondstrahl."
(Otto Erich Hartleben)
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Das sich wandelnde Interesse, das den reinen Schaustücken gegenüber anderen Darbietungen zunehmend den Vorzug gibt, ist nicht auf Frankreich beschränkt. Es findet jedoch in Paris seinen prononcierten Ausdruck, insbesondere nach der Revolution von 1830, zeigt sich aber auch in anderen europäischen Zentren. In einer Phase des Umbruchs, in der die Straßen der Metropole immer wieder vom Lärm sozialen Aufruhrs erfüllt sind, das Schnauben und Dröhnen der Eisenbahn in die Städte dringt und das Hämmern der Maschinen in den Fabriken den Takt vorgibt, den die Industrialisierung fordert, bedarf es vermehrt andersartiger Kunstformen. Das Bedürfnis nach Zerstreuung sucht nach Refugien der Stille, die allein dem Auge Aufmerksamkeit abverlangen. Madame Tussaud reist mit ihrer "Wax-Work-Exhibition" durch die Lande, bevor sie sich 1835 in London niederlässt. In Wien wird Ferdinand Raimunds Komödie Der Alpenkönig und Menschenfeind vom Ballettmeister Occioni zur "Zauberpantomime" umgearbeitet und 1829, nur ein Jahr nach Premiere des Theaterstücks, aufgeführt. 4
In Paris triumphiert Deburau im Théâtre des Funambules, wo "alle Künstler sich treffen, die eine ganz neue Kunst suchen." 5 Er hat den Pierrot neu erfunden - in unschuldigem Weiß gekleidet und das Gesicht ebenso geschminkt - als eine Figur aus dem Volk, dem der Spiegel vorgehalten wird. Denn das Publikum der Funambules rekrutiert sich zum guten Teil aus Leuten von der Straße, die sich den "tarif démocratique" ab vier Sous leisten können. 6 In einer solchen Aufführung der mimischen und körperlichen Gebärden bleibt es auf der Bühne ruhig, während die Zuschauer gewissermaßen die Gespräche von der Straße fortsetzen und sich während der Vorstellung unterhalten. Es ist ein anderes Theater, in dem das Publikum das Wort führt, manche Aktionen auf der Bühne mit Ausrufen und Lachen begleitet und die Nachbarn sich ihrer Meinungen lautstark versichern. Was gezeigt wird, ist nicht von einer anderen Welt - wenn auch häufig ins Märchenhafte und Groteske gewendet -, sondern der Besucher sieht sich selbst im Pierrot, diesem Typus mit den Erfahrungen aus dem Alltag der kleinen Leute. Man kann nicht nur deshalb von Bildern sprechen, weil die pantomimischen Stücke aus einer Folge mehr oder weniger zusammenhangloser Tableaus und häufig wechselnder Bühnenbilder bestehen, so dass kein kausaler Handlungsablauf gegeben ist. Sondern auch weil der Pantomime gelegentlich im Spiel einhält, die Darsteller einen Gesichtsausdruck oder eine Haltung für eine kurze Zeit beibehalten - ein Lächeln, eine Abwehr, ein Erschrecken -, als Betonung eines besonderen Moments und damit die Zeit des Handelns aufgehoben wird. Dieser angehaltene Augenblick provoziert ein plötzliches Aufmerken im Publikum vor dem lebenden Bild, das wie im Tod erstarrt scheint. Eine innere Bewegtheit nicht durch Sprache, sondern durch "Mienenspiel und Körperbewegung" auszudrücken, hat bereits Kleist seine Hauptgestalten exerzieren lassen. "In den entscheidenden Augenblicken fehlen ihnen die Worte, sie stammeln und verstummen schließlich und die einzige Art sich verständlich zu machen [...] ist die Gebärde." 7 Es handelt sich um eine neue Form des Schau-Spiels, das die Mitwirkenden nicht nur vor Bühnenbildern agieren lässt, sondern sie selbst als Bilder in die Handlung einführt.Solche Unterbrechung fungiert wie der Auslöser einer Spannung, die den Augenblick quasi mittels Verlängerung aufzeichnet und damit die Gleichzeitigkeit von Darstellung und Wahrnehmung infrage stellt. Manch einer wird sich an die Situation beim Silhouettenschneider erinnert fühlen, wenn er - nun in der Rolle des Darstellers - still halten muss, um sich später ein Bild von sich machen zu können. Die Unterbrechung einer kontinuierlichen Darstellung praktiziert Janin auf andere Weise im Text über Deburau, der in zahlreiche kleine Abschnitte von oft nur drei oder vier Zeilen gegliedert ist. Im Wechsel der Themen hält der Leser kurz inne. Wenn zwischen den Äußerungen des Autors ein komplettes Stück von Bouquet aus dem Jahr 1830 mit allen Szenen und Aktionen wiedergegeben ist, erwächst der Eindruck einer Vielzahl von Auftritten des Helden. Die Beschreibung der pantomimischen Kunst hat so - zumindest in Teilen - die Züge ihres Gegenstandes angenommen.
Nun ist die Pantomime eine alte Kunst, die den Weg vom Jahrmarkt und von der Straße auf die Bühnen gefunden hat und auch eine bürgerliche Klientel begeistern kann. Ihre Beliebtheit zeigt sich unter anderem am Personal der Wiener Theater der 1830er Jahre, die in ihren Ensembles neben oder innerhalb der Balletttruppe einen oder auch zwei "Pantomimenmeister" und oft über 20 Tänzer und Tänzerinnen sowie "Mimiker" versammeln. 8 Die Pantomimen erweitern den Spielplan aus gesungenen und gesprochenen Stücken oder bilden Einlagen innerhalb einer Aufführung. Dann fungieren sie als eine Art Illustrierung, die das audiovisuelle Geschehen unterbricht und ausschließlich dem visuellen Gefallen dient. Diese zunehmende Präsenz im beginnenden 19. Jahrhundert geht parallel mit der Ausstattung der Journale mit Bildern, die gleichfalls den Fluss der Texte unterbrechen und zur Betrachtung einladen. Diese Tendenz ist durchaus als ein Schritt hin zu einer Massenkunst anzusehen, die ihr Publikum auf dem Feld der bildlichen Darstellungen sucht. Die Verbesserung der Reproduktionstechniken - wie durch die Lithografie oder die Ablösung des Holzschnittes durch den Holzstich - ebnen den Weg zu realitätsnäheren Darstellungen. Die stummen Künste kommen - indem sie die Barriere der Sprache nicht kennen, die manche Schichten benachteiligt - ebenso den demokratischen Ansprüchen der Epoche entgegen, was die Zugänglichkeit betrifft, wie den panoramatischen in Bezug auf die Breite der Motive. Auch im Wandel des Bühnenbilds manifestiert sich die neue Sichtweise, wenn die szenischen Perspektiven der Kulissenbühne mit ihrer Tiefenillusion abgelöst wird von einer "vision panoramatique" mit ausladenden Ansichten im Hintergrund, die in die Weite einer Landschaft weisen. Mit einer Aufführung im Jahr 1822 gehört Daguerre zu den ersten, die einen solchen Wechsel propagieren. 9 Sie findet im Théâtre Ambigu Comique statt, wo der spätere Erfinder als Theatermaler und Dekorateur wirkt und das sein Domizil ebenso am Boulevard du Temple hat wie die Funambules. Auch wenn diese Häuser auf ein ganz anderes Publikum bauen, sind es die Zauber- und Schauerstücke, die den Zuschauer da wie dort begeistern. Beispielsweise gehört der Teufel zu den tragenden Gestalten mehrerer Opern und Theaterstücke - man denke nur an die Begeisterung für Goethes Faust im Paris der 1830er Jahre oder die seit 1831 erfolgreich gespielte Oper Robert le Diable von Giacomo Meyerbeer. Der gefallene Engel und seine Gegenstücke unter den himmlischen Heerscharen werden als metaphorische Figuren den Siegeszug der Fotografie begleiten, während der Pierrot mit seinem weiß geschminkten Gesicht auf besondere Weise den ersten Porträts der Daguerreotypisten vorangehen sollte. So weiß im November 1839 die Wiener Theaterzeitung zu berichten: "Ein Hr. Jobard aus Brüssel macht einen Vorschlag, wie man mittelst des Daguerreotyps Portraits aufnehmen könne. Da das Licht sich an den farbigen Fleischtheilen und dem Haar nicht stark genug reflectiren würde, muß der Patient sich das Angesicht weiß pudern lassen, und alsdann schraubt man ihm den Kopf zwischen drei Bretern [sic] in einen Lehnsessel oder an eine Wand fest. Auf diese Art ließe sich ein vollkommen getreues Bildniß von ihm erhalten." 10 Ebenso werden die Modelle des Amerikaners John William Draper im Herbst 1839 erst porträtiert, nachdem "das Gesicht derselben mit weißem Pulver bestäubt" worden ist. 11Der Sohn von Jean Gaspard Deburau tritt bis 1855 in Rollen auf, die sein Vater kreiert hat.
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Nadar und Adrien Tournachon: Charles Deburau, um 1854 Quelle |
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Der Pierrot wie das weiß gepuderte Modell haben etwas Gespenstisches, zeigen sie doch die Blässe des Todes. Das Amüsement im Theater lässt keinen Schrecken aufkommen, zumal sich die Figur auf der Bühne mit Gebärden zu artikulieren weiß und keine andere Zeit kennt als die Dauer der Vorstellung. Wogegen das Porträt den Betrachter immer ein wenig schaudern macht bei dem Gedanken, der abgebildete Mensch könnte bereits tot sein. Und ist es das eigene Bildnis, erkennen wir den Doppelgänger, der als Gestalt von gestern durch die Gegenwart geistert. "Das Gespenst ist komisch und furchtbar zugleich. Nicht das Lachen nur antwortet der alten Photographie. Sie stellt das schlechthin Vergangene dar [...] Die Photographie wird zum Gespenst, weil die Kostümpuppe [d.i. die für die Aufnahme arrangierte Person; T.S.] gelebt hat." 13
Die Pantomime hat noch andere Möglichkeiten des bildlichen Ausdrucks gefunden. Auf den Rollenbildnissen nehmen die Sänger und Schauspieler des 19. Jahrhunderts Posen ein, die auf eine bestimmte Szene deuten, an die sich der Käufer des Sammelfotos erinnern mag, wenn er eine Aufführung mit dem betreffenden Künstler gesehen hat. Auch manche Starporträts auf den Bildpostkarten in den 1910er Jahren und nach dem Ersten Weltkrieg zeigen die Personen auf Standfotos oder in Rollen, die sie in den Filmen verkörpert haben. Dazu gehört nicht zuletzt Alexander Moissi, von dem es in einem Werbetext zu dem Film "Die Augen des Ole Brandis" von 1913 heißt, er habe "den besten Beweis erbracht, dass nicht nur durch das gesprochene Wort, sondern vielmehr durch die Geste und Mimik, durch die Ausnutzung der Situation den seelischen Stimmungen der prägnante Ausdruck gegeben werden kann." 14 Und im selben Jahr spielt Moissi "Pierrots letztes Abenteuer", unter welchem Titel der Film "Das schwarze Los" in Wien läuft.H. Holdt: Ella Kuales von Vinela, 1920 Quelle |
In der aufkommenden Kultur der Großveranstaltungen und Aufmärsche, der Bilderflut der Illustrierten und des Kinos, der Informationsfülle des Radios steht das Pantomimische für das Individuum, das sich in der neuen Welt nach dem Krieg behaupten muss. Die Maskerade ist eine der Möglichkeiten, mittels derer sich manche Fotografinnen in Selbstbildnissen ihrer neuen Rolle versichern. Insbesondere Gertrud Arndt, Absolventin des Weimarer Bauhauses, posiert in einer Serie von 1930 - angetan mit Tüll, Spitzen, Seidenblumen und Schleier oder anderen Versatzteilen und mit jeweils verändertem Gesichtsausdruck - als naives Mädchen, als mondäne Frau, als verträumtes Geschöpf oder als Asiatin. 17
Gertrud Arndt: Maskenselbstbildnis, 1930 Quelle | |
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Arnulf Rainer: Ohne Titel, um 1970 Quelle |
John Baldessari geht wenige Jahre später den umgekehrten Weg, er trennt die Künste, um sie in einem fotografischen Artefakt aufzuheben. Die Darstellungen von Stress in den Gesichtern mehrerer Männer haben ihren Ursprung im Film, der jedoch nur das Set liefert. Denn es handelt sich um Standfotos, also inszenierte Fotografien, Vorführungen, die ausschließlich für den Fotografen stattgefunden haben - nicht Ausschnitte aus, sondern Zuschnitte für einen Film. Der Künstler extrahiert die Köpfe mittels Vignettierung aus der Situation und ihrer Umgebung und setzt sie einzeln und neu gegeneinander, und zwar indem bei jedem Bild der Folge die Blickrichtung wechselt. Zudem sind die Bilder violett getönt, womit die Zuordnung dieser Farbe Gewalt assoziiert, was im Titel seinen Niederschlag findet: "Violent Space Series". Das Filmische, das Pantomimische, das Fotografische treten bloß noch als Gesten auf und erweisen den stummen Künsten ihre Reverenz.
John Baldessari: Violent Space Series: Five Vignetted Portraits of Stress Situations, 1976 Quelle |
30.7./ 11.9.2008
© Timm Starl 2008
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