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„[...] oberhalb von dessen [des Hühnerhofs] Tür und der des Ferkelstalls
ist eine weiße Stelle,
die auf dem Abzug sehr deutlich in Schwarz zu erkennen ist.“
(Joseph Nicéphore Niépce, 1816)1

„Die leere Stelle ist eine offene Stelle.
Die Leere ist gewissermaßen die ‘carte blanche' für Sinnerfüllung.
Das Weiß ist wie ein Schweigen, das plötzlich verstanden werden kann [...]“
(Günter Wohlfahrt, 1994)2

Um die Mitte der 1850er Jahre nehmen Southworth & Hawes den Lesebereich der Bibliothek im Bostoner Athenaeum auf. Die Kamera ist gegenüber der verglasten Balkontür, durch die starkes Sonnenlicht einfällt, aufgestellt. Während die Personen und die Einrichtung des Raumes deutlich abgebildet sind, zeichnen sich das Balkongitter und die Fassade eines über der Straße gelegenen Hauses nur schwach ab. Beherrscht wird der Hintergrund von dem strahlenden Weiß, das den oberen Teil der Tür ausfüllt. Der Lichteinfall hat sich so heftig niedergeschlagen, dass noch Partien der Täfelung stark aufgehellt erscheinen. In dem Band The Daguerreotype in America von 1976 ist diese Erscheinung als natürliche empfunden worden, während die Herausgeber einer Monografie von 2005 die Reproduktion haben bearbeiten lassen, so dass die Strahlung nach den Seiten hin abgemildert ist.

Southworth & Hawes: The Boston Athenäum, Lesesaal, um 1853/55 Southworth & Hawes: The Boston Athenäum, Lesesaal, um 1853/55 Southworth & Hawes: The Boston Athenäum, Lesesaal, um 1853/55
Southworth & Hawes: The Boston Athenäum, Lesesaal, um 1853/55 (Ausschnitt), reproduziert vermutlich vor 1961Quelle Southworth & Hawes: The Boston Athenäum, Lesesaal, um 1853/55 Quelle Southworth & Hawes: The Boston Athenäum, Lesesaal, um 1853/55 (Ausschnitt), reproduziert 2005 Quelle

Die helle Stelle im Zentrum des Bildes mussten die Daguerreotypisten hinnehmen, zumal nur eine lange Belichtungszeit gewährleistete, dass die Details des Innenraums deutlich zur Abbildung gelangten. Sie wussten, dass zugleich die stark beleuchteten Partien ungewöhnlich hell oder gar als weiße Flächen erscheinen würden. Der starke Kontrast sowie der Eindruck, dass nicht alles gleichermaßen deutlich wiedergegeben werden kann, mögen dazu geführt haben, dass im 19. Jahrhundert Aufnahmen dieserart selten hervorgebracht oder – als misslungen kategorisiert – nicht aufbewahrt worden sind. Schließlich stand die Fotografie für höchste Genauigkeit der Wiedergabe aller sichtbaren Erscheinungen, die sich vor dem Objektiv befinden. Nicht zuletzt drängt sich eine solche „Leerstelle“ – ob einem Zufall geschuldet oder in Kauf genommen – in den Vordergrund auf Kosten jener Bildobjekte, die das eigentliche Motiv abgegeben haben.

Diese Leerstellen – wie ich sie fürderhin nennen werde, obwohl der Begriff nicht annähernd zum Ausdruck bringt, was sich dahinter in technischer, inhaltlicher oder gestalterischer Hinsicht verbirgt – zeichnet aus, dass sie den Blick auf sich ziehen, obgleich gar nichts zu sehen ist. Sie beziehen ihre Gestalt ausschließlich aus dem, was sie umgibt. Eine leere Stelle tritt ja niemals alleine auf, sondern nur gemeinsam und gleichzeitig mit dem, was sie nicht ist. Sie ist Fotografie und desgleichen ihr Phantom. Sie verfügt über dasselbe Potential, wie das Medium, das sie hervorbringt, indem sie auf etwas deutet und es zugleich verbergen kann. Beispielsweise geschieht dies in dem Bild von John Hilliard aus dem Jahr 1998, das mit „Fallen“ betitelt ist, was mit „Gestürzt“ zu übersetzen wäre. Der Fotokünstler spielt mit dem Begriff, denn einerseits ist am rechten Rand der Kopf eines

Hans Hartung: „Tunnelende“, 1974/75 John Hilliard: „Fallen (Into The Light)“, 1998
Hans Hartung: „Tunnelende“, 1974/75
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John Hilliard: „Fallen (Into The Light)“, 1998 Quelle
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offensichtlich am Boden liegenden Mannes zu erkennen, aber das weiße Oval lässt verrät nicht, ob ein Sturz vorausgegangen ist. Die Auslassung zieht uns in ihren Bann und lässt über die Ungewissheit stolpern, die sie verbreitet. Wir stürzen gewissermaßen über die Fragen, aber wir wissen nicht, welche die richtigen sind und ob wir auf die Antwort fallen. Während Hans Hartung in seiner Arbeit von 1974/75 den Betrachter aus dem Dunkel heraus auf das „Tunnelende“ zueilen lässt. Die Leerstellen verfügen über magische Kräfte, ebenso ins Bild stoßen wie aus diesem hinaus katapultieren.

Solche Inszenierungen operieren nicht zuletzt gegen die vermeintliche Eindeutigkeit von fotografischen Bildern, die als einzelne Aufnahmen niemals mehr preisgeben, als wir uns ausmalen, also in sie hineinlegen. Das Einzelbild ist stumm, es erzählt nichts, wenn nicht eine Legende Erläuterungen liefert. Es enthält nicht mehr als Ähnlichkeiten und Andeutungen, und wer nur das zentrale Motiv betrachtet und auf weitergehende Informationen verzichtet, vermag sich nicht allzu viel erzählen. Indem es durch eine Leerstelle verdeckt ist, wird das narrative Potential, das ein Bild enthält, nicht eingegrenzt, sondern vergrößert. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Harry Callahan: „Eleanor“, 1948 Norbert Przybilla: „La camera“, 1982 Brian McKee: „Palace, Afghanistan“, o.J.
Harry Callahan: „Eleanor“, 1948
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Norbert Przybilla: „La camera“, 1982
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Brian McKee: „Palace, Afghanistan“, o.J. Quelle
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Die leere Stelle ist ein Einschnitt, ein Schnitt in den Bildraum, ein negativer Ausschnitt, wenn man will, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht und zugleich die Rolle des Fingerzeigs übernommen hat, der über sich hinaus weist. Der Blick wird zurückgeworfen, er habe sich gefälligst woanders zu orientieren, nicht allein im Bild, sondern in all dem, was zu dessen Entstehung beigetragen hat: Was links und rechts des Ausschnitts stattgefunden hat beziehungsweise vorhanden gewesen ist, sich im Rücken des Fotografen und vor der Aufnahme abgespielt hat. Mit ganz unterschiedlichen Entwürfen lässt sich erreichen, dass der forschende Blick des Betrachters nach außerhalb und immer auch auf das Medium selbst gelenkt wird. Und es sind vielfach die gängigen Metaphern der Fotografie, mit denen operiert wird: das Fenster, der Spiegel. Dabei ist gleichgültig, ob ein schemenartiges Wesen am Bildrand oder kahle Wände den Halt verweigern und ständig zum Fenster zurückführen, dorthin, wo gar nichts zu erkennen ist außer dem Einfall von Licht.

Mitja Tusek: ohne Titel, 1988 Robert Frank: Restaurant, 1958 Hiroshi Sugimoto: Goshen, Ohio, 1980
Mitja Tusek: ohne Titel, 1988 12 Quelle Robert Frank: Restaurant, 1958 13 Quelle Hiroshi Sugimoto: Goshen, Ohio, 1980 14 Quelle

Manche Kreationen zeigen auf das Fiktionale des Mediums und der Bildmedien insgesamt – ein Ölgemälde in spiegelndem Glanz, der Fernsehschirm bei laufendem Programm, eine leere Leinwand im Kinosaal. Keines dieser ‘Fenster' bietet einen Blick auf die Welt, auf sie werden Bilder gesetzt, projiziert, die dem Publikum wiederum Flächen für eigene Projektionen abgeben. Wir sehen, was wir wissen, vor dem Sehen liegt die Vorstellung von den abgebildeten Dingen: „[...] es ist der Betrachter, der das Bild darstellt, seine Gefühle und seine Ideen stellen das Bild dar.“3 Wenn Fotografien jedoch keine Motive bieten, die Vergleiche zulassen oder Vergangenes im Gedächtnis wachrufen, wird eine Korrespondenz unmöglich und der Betrachter sieht sich einem Blick ausgeliefert, den er nicht erwidern kann.

Duane Michaels: „The Illuminated Man“, 1969 Duane Michaels: „The Illuminated Man“, 1969 Quelle
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Wie das Fensterbild von Norbert Przybilla aus dem Jahr 1982 nicht als Inszenierung zu erkennen ist, die sich als Doppelbelichtung zweier fotografischer Vorgänge verdankt, lassen sich die fotografischen Mittel nicht ohne weiteres nachvollziehen, die Duane Michals um 1972 bei „The Illustrated Man“ angewendet hat, um das Gesicht eines Freundes so sehr ins Licht zu setzen, dass es unkenntlich wird. Bei der Aufnahme befand sich hinter dem Kopf eine starke Lichtquelle, während die Belichtung nach der Dunkelheit im Tunnel ausgerichtet wurde. Bei der Ausarbeitung des Positivs wurde der Kontrast durch die Wahl und Behandlung eines entsprechenden Fotopapiers noch verstärkt, worauf die Identität der Person verloren ging.4 Es ist jeweils nicht das Licht, das sein Bild fordert, sondern die sensible Schicht des Fotomaterials, das sozusagen überreagiert.

Ralph Eugene Meatyard: „Figure with Glas“, 1966 Bernhard Johannes Blume: „Demonstrative Identifikation [...]“, 1971
Ralph Eugene Meatyard: „Figure with Glas“, 1966
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Bernhard Johannes Blume: „Demonstrative Identifikation [...]“, 1971 Quelle
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Verdeckt die Leerstelle ein Gesicht, neigen wir dazu, hinter diese schauen zu wollen, die Züge zu vervollständigen, als ob das Bild nicht zu Ende gebracht worden sei. Wir möchten wissen, was hinter dem Weiß versteckt liegt, was sich gewissermaßen im Schatten des Lichts verbirgt. Wir weigern uns, in den Spiegel, der uns entgegen gehalten wird, zu blicken beziehungsweise diesen überhaupt als solchen wahrzunehmen. Doch Fotokünstler wie Ralph Eugene Meatyard oder Bernhard Johannes Blume referieren nicht über sich oder eine andere Person, sondern über ihre Profession, zu der für manche auch zählt, uns das Sehen zu lehren. Dies lässt sich nur erreichen durch Konstellationen im Bild, die Irritationen auslösen und sich dem stereotypen Blick des Bildkonsumenten, der keine Fragen hat, entgegenstellen. Dazu gehören: das Verbergen, das Täuschen, das Ablenken – konstitutive Momente des Fotografischen. Die leere Stelle ist der Einfall der Fotografie, mit dem sie ihr Geheimnis offenbart: Es ist das Rätsel, das nicht gelöst, sondern gesehen werden muss.

Fahndet man in anderen Medien nach leeren Stellen, tauchen solche zwar auf, sind jedoch von anderer Art. Die Kartografie hat dem Begriff eine besondere Bedeutung gegeben: Mit dem ‘weißen Fleck' auf der Landkarte wird jenes Terrain identifiziert, das noch unerforscht ist, von dem keine Daten vorliegen. Entsprechend existiert kein Bild von dieser Gegend, sondern sie wird bestimmt durch die bekannten, sie einschließenden Territorien. Die Fläche auf der Landkarte ist weiß beziehungsweise in der Farbe des Papiers oder eines anderen Materials gehalten, auf das gedruckt oder anderswie reproduziert worden ist.

Bei den nichtfotografischen Bildkünsten sind Leerstellen nicht relevant. Die Zeichnung beispielsweise kennt die völlig ausgearbeitete Fläche nicht, die Malerei in den meisten Fällen nur diese, so dass jeder unbearbeitete Teil den Eindruck eines nicht vollendeten Werkes hervorrufen würde. Vor allem aber können leere Stellen nur durch Auslassungen entstehen, sind demnach keine Erscheinungen, die der Verwendung eines Malgeräts bedürfen. Was nicht gleichzusetzen ist mit dem Auftragen von Farbe. In mehreren Gemälden William Turners, die ab den 1820er Jahren entstanden sind, konzentriert sich das Geschehen um eine in blendendem Weiß gehaltenen Stelle, die – ähnlich einem Wirbel oder einer Explosion – das Geschehen dynamisiert. Doch auch ohne sie verlöre die Darstellung nicht ihren Gehalt, sondern die bildlichen Argumente wären bloß mit weniger Nachdruck vorgetragen. Auch enthalten diese Partien keine selbstbezüglichen Komponenten, nicht einmal wenn es sich um Lichtquellen handelt, denn das Licht muss vom Künstler ins Bildliche übertragen werden wie jeder Gegenstand, der festgehalten werden soll.

Das Weglassen beherrschen auch Literatur und Film, wenn sie eine Sequenz abbrechen und die Handlung an anderer Stelle fortsetzen. Die dergestalt entstehenden Leerstellen – in der Literaturwissenschaft auch so bezeichnet – verdanken sich einem Schnitt in die Zeit, die jedoch nicht jener des Mediums entspricht. Sie sind eine Erzählform, eine rhetorische Geste, ohne argumentative Qualität. Anders verhält es sich bei der Konkreten Poesie. In manchen Konstrukten illustriert eine Leerstelle, was die Worte meinen, indem aus diesen ein Bild geschaffen wird. Bei Eugen Gomringers Gedicht von 1954 wird das Schweigen unterbrochen – im wörtlichen Sinn des Abbrechens –,

Eugen Gomringer, Silencio, 1954 Eugen Gomringer, Silencio, 1954 Quelle
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aber nicht durch die Rede oder ein entsprechendes Wort, sondern dem Schweigen wird etwas entgegen gesetzt, das nicht Schweigen ist und zugleich nicht Reden. Wie in der Fotografie bedeutet die leere Stelle eine Negation, die innerhalb des Bildes auftritt, eine Gegenstellung. Aber anders als in der Fotografie ist dieses Nichts kein Begriff, der dem Medium eigen ist. Während sich die fotografische Leerstelle – materiell wie bildlich – ausschließlich medienimmanenter Elemente verdankt. Sie mutet an wie eine Implosion, bei der die Fotografie auf sich zurückfällt, eine Katastrophe demnach, bei der sich das Medium entäußert und damit eine blendende Wirkung erzielt – etwa wie beredtes Schweigen.

Bernhard Johannes Blume: aus „Transzendentaler Konstruktivismus“, 1992 Bernhard Johannes Blume: aus „Transzendentaler Konstruktivismus“, 1992 Quelle

 

30.12.2008

© Timm Starl 2008

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