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"In einem Zimmer sitzen und doch reisen, ist desto angenehmer,
da weder Staub, noch Zoll und Visitationswesen die Reisenden inkommodiert."
(Moritz Gottlieb Saphir, 1827) 1

"[...] und verlasse meinen Lehnstuhl zu Hause,
während ich im Geist auf Jerusalem vom Ölberg herabschaue."
(Oliver Wendell Holmes, 1859) 2

"Wer ein Bild ansieht, ist genügsam,
verzichtet in der Regel auf das Kennenlernen des Originals [...]"
(Ulrich Keller, 1979) 3

"Historisch gesehen existiert die Reise nur als Literatur."
(Johannes Odenthal, 1986) 4

Der Stuhl, auf dem die ersten professionellen Fotografen ihre Kundschaft Platz nehmen ließen, um ein Porträt anzufertigen, hatte mehrere Funktionen, ersichtliche und verborgene. Zunächst sollte er dem Modell die Möglichkeit eröffnen, Haltung einzunehmen und beizubehalten. Zudem wird der Winkel zur Kamera bestimmt, also inwieweit jemand im Profil, Halbprofil oder en face aufgenommen werden möchte. Ein Tischchen, auf das der Arm aufgestützt oder gelegt werden kann und ein verstellbarer Kopfhalter hinter dem Stuhl garantieren, dass sich der Atelierbesucher möglichst nicht bewegt. Die Machart der Möbelstücke vermittelt den Eindruck eines Wohnraumes, als ob die Aufnahme in einem privaten Ambiente stattfinden würde. Dies sind die erkennbaren Merkmale der fotografischen Inszenierung. Die Zeitgenossen verharren unbeweglich vor einem Gerät, von dem sie die Herausgabe von Bildern erwarten.

Ein solches Szenario ist nicht neu. Auch für ein gemaltes oder gezeichnetes Bildnis musste man Sitzungen absolvieren, während derer der Künstler die Erscheinung in Augenschein nahm. Doch es war nicht dieselbe Klientel, die in die Ateliers des Fotografen kam. Die aufkommende Bürgerschicht besaß vielfach noch kein Bild von sich, die wenigsten hatten sich in Öl oder Pastell konterfeien lassen. Bestenfalls war man zu einem Silhouetteur gegangen oder hatte für ein Physionotrace Modell gesessen. Selbst dort hatte eine Person den Storchenschnabel betätigt, während beim Fotografen eine Apparatur die Aufzeichnung übernahm. Daran sollten sich die Zeitgenossen gewöhnen: ohne sich zu rühren, in Erwartung zu verharren, bis die neuen Bilder aus der Maschine über sie kommen.

Damit die fertigen Daguerreotypien betrachtet werden konnten, war es notwendig, diese vor sich und gegenüber einem dunklen Hintergrund zu platzieren, damit die negative Ansicht positiv erschien. Es kennzeichnete schon die ersten Bilder, dass sie bewegt werden mussten, um die gewünschte Ansicht erkennen zu können. Später wird man ein Stereoskop mit regulierbarer Einstellung benötigen, um die Doppelbilder in ihrer dreidimensionalen Wirkung wahrnehmen zu können. Wiederum muss die Halterung mit dem Abzug verschoben werden, bis das Bild jene Deutlichkeit erreicht hat, die der Betrachter wünscht. Oder das Fotoalbum wird durchgeblättert, einzelne Abzüge werden einer Kassette entnommen, um sie in Ruhe ansehen zu können. Der Umgang mit dem neuen Medium ließ den Menschen innehalten, ob er nun für eine Aufnahme posierte oder eine solche betrachtete. In die Mitte des 19. Jahrhunderts fällt auch die Mechanisierung der Sitzmöbel: Drehsessel, verstellbare Höhe der Lehne u.a.5 Die Fähigkeit zur Bewegung ist auf den Stuhl übergegangen, während sein Benutzer sitzend in die Kamera und auf die fotografischen Hervorbringungen schaut. 6

Underwood & Underwood: Mann mit Stereobetrachter, um 1900 Underwood & Underwood: Mann mit Stereobetrachter, um 1900 Quelle

Wollte man einen Blick über die eigene Person und die nähere Umgebung hinaus auf die Erscheinungen der Welt werfen, so bedurfte es der Bereitschaft, sein Bedürfnis mit Bildern zu stillen. Demgemäß war die Haltung des neugierigen Zeitgenossen eine statische. Der Betrachter der Ferne brauchte nicht in diese zu reisen, sondern die Ansichten sollten zu ihm kommen. Ohnehin war es den meisten aus finanziellen Gründen nicht möglich, Reisen zu all jenen Orten zu unternehmen, die man gerne besucht hätte. Im übrigen kam auch für alle anderen nicht mehr infrage, unbekannte Regionen zu entdecken, denn Mitte des 19. Jahrhunderts waren nahezu alle weißen Flecken auf den Landkarten verschwunden. Es bestand demnach nur (mehr) die Möglichkeit, dem Bekannten nachzugehen, jenem, von dem man gehört oder gelesen hatte. Man musste sich lediglich noch ein Bild davon machen.

Schon bevor die Fotografie die Bilder der Fremde in die heimischen Stuben bringen konnte, hatte der umherziehende Guckkastenmann an der Ecke zur Besichtigung von exotischen Gegenden und turbulenten Schlachtenszenen eingeladen. Wie später die Lichtbildner sich mit einem dunklen Tuch vor der übrigen Welt abschirmten und an der Gegend maßnahmen, die sich vor dem Objektiv ausbreitete, stand der Kunde vor dem "Kasten, in dessen Wände zwei jener optischen Gläser, welche die Dinge vergrößern, eingelassen sind" 7 und hatte gleichfalls ein Stück Stoff über den Kopf geworfen, damit er sich ungestört den wechselnden Bildern widmen konnte. "So reist denn der Pariser", heißt es 1788, "ohne große Kosten und ohne jeden Unfall zu riskieren, rund um die Welt; er erschaut in dieser Wunderkiste Länder, die er sonst zeit seines Lebens nicht zu sehen bekäme [...]" 8

Auch kannte das 18. Jahrhundert die imaginäre Reise bereits als verbreitetes literarisches Genre. In der Voyage autour de ma chambre von 1795 unternimmt der Autor Xavier de Maistre angesichts der Einrichtungsgegenstände seiner Wohnung gedankliche Ausflüge zu den Erinnerungen an Landschaften und Begegnungen mit Menschen. Die Erzählung war so erfolgreich, dass 1825 eine Fortsetzung unter dem Titel Expédition nocturne autour de ma chambre erschien. "In der neuesten Zeit", heißt es 1839, "ist es Mode geworden, Reisebeschreibungen zu liefern, die zwischen Memoire und Novelle schwanken, mehr literarische Porträts und sociale Zustände, als Länder und Völker zeichnen, weniger statistisch, als nach der jedermaligen Stimmung des Verfassers politisch, polemisch, oder poetisch-didaktial gehalten [...]" 9 Das ging so weit, dass manche Reisende über Städte oder Landstriche berichteten, die sie gar nicht aufgesucht hatten. Stendhal beispielsweise schmückte seine Reise in Italien mit Anekdoten, die er an Orten stattfinden ließ, in denen er niemals gewesen war, und übernahm Schilderungen von Goethe und anderen Autoren. 10

Es kam ja - bei den fotografischen wie den literarischen Beschreibungen - ohnehin nicht auf die Auswahl, den Ausschnitt oder die Perspektive an, die von den Bild- und Textautoren geliefert wurden, sondern es ging um Anregungen, die jedem Konsumenten seine individuellen Vorstellungen von den beschriebenen Stätten und Geschehnissen ermöglichten. Die unermesslichen Reisen finden ohnehin in der Phantasie statt, sie sind nicht an Räume und Zeiten gebunden, und auch nicht an das tatsächliche Aussehen von Menschen und Dingen, sondern sie vollziehen sich in Bildern, wodurch auch immer diese angeregt werden.

Das Pfennig-Magazin [...], Titelseite vom 4. Januar 1834 Das Pfennig-Magazin [...], Titelseite vom 4. Januar 1834 Quelle

Neben Büchern und Artikeln in den Journalen kamen auch Spiele auf den Markt wie beispielsweise 1839 die "Eisenbahnreise durch Europa" mit "81 Städteansichten in sauber gestochenen Mignon-Copien größerer Blätter". Deren Gebrauch, versprach der Verlag der H.F. Müller'schen Kunsthandlung in Wien, "lehrt die Städte kennen." 11 Indem die fiktive Fahrt mit der Eisenbahn unternommen wurde, bediente sich der Spieler des modernsten Verkehrsmittels jener Jahre. "Diejenigen, welche weder Zeit noch Gelegenheit haben, sich auf der Eisenbahn selbst zu vergnügen", hieß es in einem anderen Angebot von Ansichten entlang der Bahnstrecke, "sollen diese Nachbildungen wenigstens für eine angenehme Zimmerreise zur Hand nehmen [...]" 12

Bekannte Städte waren sogar in verkleinerter Form zu besichtigen, ohne dass der Ort, an dem man wohnte, verlassen werden musste. Es wurden Modelle angefertigt, die auf Rundreise gingen. So war im Oktober 1839 "Venedig in Wien" zu bestaunen: "In der That, man glaubt sich durch Zaubermacht versetzt, inmitten der herrlichen, unvergleichlichen Meeresstadt [...]" 13 Was das Modell mit den bildlichen Wiedergaben verbindet, ist eine Ferne, die aus der Nähe zu erfahren war. Einerseits ermöglichte sie den Überblick durch Wechsel des Standorts rund um die Miniaturstadt. Dies ist die Perspektive des Reisenden, der das höchste Bauwerk der Stadt besteigt, um sich eine weiträumigen Überblick zu verschaffen, oder von einer Sehenswürdigkeit zur anderen eilt. Andererseits garantieren Nahsicht und Verkleinerung a priori Vertrautheit und verschaffen den Objekten idyllisch anmutende Züge. Man war ja zu Hause, während der Blick sozusagen in die Ferne schweifte.

SMit solcherart Blicken vom heimischen Standort aus auf eine reale Landschaft wurde bereits im 18. Jahrhundert begonnen, sich die Ferne aus der Nähe zu erschließen. Um den Horizont zu erweitern, war es notwendig, einen erhöhten Standpunkt einzunehmen. "Wollt Ihr wissen, wie Paris wirklich aussieht? Dann steigt auf die Türme von Notre-Dame", riet Louis Sébastien Mercier in seinem 1788 erschienenen Tableau de Paris. 14 Mit dem Ballon erweiterten sich die Möglichkeiten, zu neuen Ansichten zu gelangen. Der Mitfahrer befand sich - so der Wind das Gefährt nicht abtrieb - in heimatlichen Gefilden und blickte auf Landschaften, die vom Boden aus nicht auszumachen waren. Eine ganz ähnliche Perspektive eröffnete das Panorama mit einer Rundsicht, die von einer zentralen Plattform zu besichtigen war. Der Besucher nahm die Position des Ballonfahrers ein, der von oben auf die Umgebung blickte, wobei manche Konstruktionen mit Ventilatoren ausgestattet waren, so dass der Wind die Illusion einer Höhenfahrt verstärkte. Die ersten bemannten Flüge von 1783 fanden in Paris statt, wie auch das erste französische Panorama von 1799 eine Ansicht der französischen Hauptstadt darstellte. 15 Noch aber musste der Zeitgenosse das Haus verlassen, wenn er die Attraktion aufsuchen und anschließend die Luftfahrt mitmachen oder das Panorama besichtigen wollte. Das Kontinuum des Aufstiegs, der Rundgang auf dem Podium des Panoramas und nicht zuletzt die Kopfwendungen, um größere Teile des Rundblickes zu erkennen, brachten jenen Faktor ins Spiel, der - ohne Wechsel des Standorts - gleichwohl das Gefühl der Fortbewegung hervorrief, wie sie eine Reise auszeichnet.

Nach und nach sollte es immer weniger notwendig werden, sich von der Stelle zu bewegen, während die Bilder anfingen, zum Betrachter zu kommen und an ihm vorüber zu ziehen. Der fahrende Mann mit dem Guckkasten hatte sie bereits seit längerem angeboten, indem er die Ansichten wechselte oder durch Wechsel der Lichtquelle - Tageslicht von oben, Kerzenlicht von hinten - zwei Konstellationen derselben Darstellung vorgeführt wurden, beispielsweise ein unversehrtes Gebäude, das im nächsten Augenblick in Flammen stand. Denselben Effekt wusste Daguerre zu nutzen, wenn von 1831 an beim Diorama Vorder- und Rückseite mit transparenten Farben bemalt wurden und je nach Beleuchtung von vorne oder hinten eine Landschaft bei Tag und bei Nacht erscheinen konnte. Vollzog sich der Wechsel sukzessive und langsam, mochte der Besucher das Aufkommen der Dämmerung erleben. Nach 15 Minuten erfolgte die Drehung des Zuschauerkarussels und ein weiteres Gemälde war zu sehen. So verstärkte die zweifache Bewegung - vor den Augen und jene des Körpers - die Illusion, eine Fahrt mitzumachen. Und Daguerre konnte nach der Einführung dieser Neuerung von seinen Kunden berichten: "Wenn meine Zuschauer das Tal von Chamonix bereisen [...]" 16

Eine ähnliche Wirkung erreichte das Pleorama, bei dem Wandbilder vorbeigezogen wurden und mit optischen Täuschungen und Lichteffekten gearbeitet wurde. Der Dichter August Kopisch, ein Kenner Neapels, beschreibt 1831 eine Vorführung: Die "nun zur Reife gediehene Erfindung gibt uns durch eine ununterbrochene, über mehrere hundert Ellen sich erstreckende Reihe von Bildern nicht etwa nur einzelne Ansichten von Neapel, sondern führt die Szenerie vollständig vor uns vorüber", so "dass man sich wirklich in jene uns Festländern fremde Natur versetzt fühlt [...]"17 Im Anschlagzettel zum "Pleorama des Rheins von Mainz bis St. Goar", das 1833 in Berlin gastierte, ist zu lesen: "Der Reiselustige betritt den überdeckten Raum einer großen Gondel [...]", und für das Ende dieser einstündigen "Flugreise" wird angekündigt: "Unterdessen wird es Abend, der Himmel rötet sich, die Sonne geht unter, und wird von aufsteigendem Gewölk verdeckt, und die Gondel landet bei aufgehendem Monde." 18 Wer mochte, konnte die komplette Gondel, die Platz für 30 bis 36 Personen bot, mieten, also eine Art Gruppenreise unternehmen. Gegenüber einer Ballonfahrt hatten sich die Bewegungen reduziert: Aufstieg und Fahrt waren vergegenständlicht in der überdimensionierten Gondel, in der auch kein Platzwechsel mehr erforderlich war, weil sämtliche Bilder im Blickfeld des "Reisenden" geboten wurden.

Gemein ist solchen Vorführungen, wozu auch die Projektion von Ansichten mit der Laterna magica zählt, bei der mittels Überblendungen die Vorstellung von Bewegung ausgelöst wurde, dass sich die Betrachter nicht mehr weit von zu Hause entfernen mussten. Zudem suchten die Darstellungen nicht nur nach größtmöglicher Ähnlichkeit mit den tatsächlichen Gegebenheiten, sondern es wurde mit Bildfolgen ein Vorgang simuliert, der dem ständigen Wechsel der Eindrücke während des Reisens entspricht. Inwieweit die daraus hervorgehenden Sichtweisen bereits zu vorherrschenden geworden sind, macht ein Vergleich von Paul de Kock aus dem Jahr 1842 deutlich: "Le chemin de fer est la véritable lanterne magique de la nature." 19 Die mediale Wirklichkeit liefert das Maß des Erlebens - wie heute gelegentlich ein Vorkommnis damit kommentiert wird, es käme einem vor wie im Film.

Weite Reisen unternahmen dagegen die neuen Bildproduzenten. Bereits im Herbst 1839 - das Verfahren Daguerres war erst seit wenigen Wochen bekannt - schickte der Verleger Nicolas-Marie Paymal Lerebours den Maler Horace Vernet in der Vorderen Orient, damit er von den bedeutenden Stätten Aufnahmen mitbringe. Noch mussten diese lithografisch umgesetzt werden, weil die Unikate der Daguerreotypie keine Vervielfältigung erlaubten. Aber noch im Laufe der 1840er Jahre lieferten Fotografen Papiernegative, von denen sich Abzüge machen und verbreiten ließen. Mit der Fotografie erfolgte eine Zäsur in zweifacher Hinsicht. Die Bilder zeigten authentische Ansichten, was eine größere Nachfrage zur Folge hatte. Und es bedurfte, um sie sich ansehen zu können, nicht mehr des fahrenden Volks oder eigener Gebäude und Räume zur Vorführung. Wollte man eine Darstellung öfter ansehen, musste auch nicht jedes Mal bezahlt werden, denn die erworbenen Blätter waren jederzeit verfügbar. Zudem wurden sie in einem Format angeboten, das die Aufbewahrung auch einer größeren Menge im eigenen Heim erlaubte. Wer Fotografien zur Hand nahm, hatte die größtmögliche Mobilität erreicht: Die Distanzen zwischen den Sehenswürdigkeiten waren nicht nur rasch, sondern ohne Aufwand zu bewältigen. Die Reihenfolge der Ansichten brauchte sich nicht mehr nach der Lage der tatsächlichen Objekte zu richten. Man konnte ohne Rücksicht auf Tages- und Jahreszeit seine häuslichen Reisen unternehmen und jeden Abstecher machen, der einem einfiel.

Das 19. Jahrhundert hat eine neue Figur hervorgebracht: den Zimmerreisenden. Das ist jemand, der nicht wegzufahren braucht, um entfernte Gegenden kennen zu lernen; der ein Sortiment von Ansichten und Lesestoff in seiner Wohnung vorfindet, wo er vom Kanapee aus alle Punkte der Erde zu erreichen vermag; der nur gelegentlich außer Haus geht, um den Buchhändler und das Kunstdepot aufzusuchen und seine Vorräte zu ergänzen; der mit der Familie Spiele bevorzugt, die jeden Beteiligten in die Lage versetzen, Städtetouren und Entdeckungsreisen zu unternehmen. Die Bilder sind ihm Aussichtsfenster, als Lektüre dienen ihm Reiseschilderungen und Zeitungsberichte, zum Führer wählt er den Stadtplan und die Landkarte. Er geht nicht weiter als bis zum Schrank und zur Kommode, um ein weiteres Buch, ein Album oder eine Mappe mit Ausschnitten zu holen; die alten Magazine hat er aufbewahrt, um hie und da einen Spaziergang zu unternehmen. Denn er reist wie andere spazieren gehen: gemächlich, mal da, mal dort verweilend, hierhin und dahin einen Blick werfend. Er vergnügt sich ebenso bei einer Stippvisite, wie er ein Vergrößerungsglas zur Hand nimmt, um ein Detail zu studieren. Von den Orten und Landschaften, die er besonders schätzt, hat er gestochene, geschnittene oder fotografierte Veduten rahmen lassen und an die Wand gehängt. Der Zimmerreisende macht seine Entdeckungen am liebsten allein, greift immer wieder zu denselben Bildern und Texten und findet Einzelheiten, die er bei der letzten Exkursion übersehen hat.

Ein Verwandter des Zimmerreisenden ist der Flaneur. Er ist die bekanntere Erscheinung, zumal ihn Walter Benjamin in Charles Baudelaire identifiziert und in Franz Hessel wieder entdeckt hat. Sie sind die einsamen promeneurs von Paris, die durch die Straßen der Metropole wandeln und darüber schreiben. Aus ihren Äußerungen - denn sie sind allesamt Schriftsteller - ersteht eine Moderne, die auf einer besonderen Art der Wahrnehmung beruht. Jules Janin ist einer jener Autoren, die den Flaneur aufgetan haben, und zwar Anfang 1839, also zur selben Zeit als er auf die Daguerreotypie gestoßen ist, deren frühester Propagandist er wurde. Der Flaneur hat kein Ziel, er überlässt seinen Weg dem Zufall: "Denn jeder Ort und jede Stunde sind ihm gleich günstig. [...] Flâner heißt seiner Lust in jedem Augenblicke willfahren, betrachten, ohne zu sehen, gehen, ohne vorwärts zu kommen [...]" 20 Von Zufall und Moment geprägt, ist diese Art der Auffassung eine fotografische, denn er liebt "die banale oder denkwürdige Erscheinung des Augenblicks [...] Der Flaneur genießt das Schauspiel der flüchtigen Erscheinung." 21

Seine Schaulust befriedigt der Flaneur noch in traditioneller Manier, indem er sich (fort)bewegt, um zu seinen Ansichten zu gelangen. Der Sehsüchtige und Reiselustige des 19. Jahrhunderts möchte diese jedoch um sich haben und jederzeit auf sie zurückgreifen können. Die Fotografien liefern die adäquaten Vorlagen, aus denen er seine Wunschbilder gewinnt. Was der Zimmerreisende in den Wiedergaben als Anschein des Realen erfasst, wird zum Muster, nach dem er seine Wohnung ausstattet. "Vor allem über Zimmer- und Bilderwelt der Gründerzeit lag der echte Fluch der Kopie (hergestellt durch Fabriken), der falsche Segen einer Exotik in Plüsch, einer Passage als Wohnung, eines Panoramas als Einrichtung." 22 Die Fotoateliers haben es vorgemacht: Auf nachempfundenen Stühlen im Renaissance-Stil, neben einer korinthischen Säule aus Pappe, auf Teppichen mit türkischem Dekor posiert die wechselnde Klientel. Der fotografische Akt wird zur Reise in die Vergangenheit und in die Ferne. Aus demselben Reservoir schöpft der Zeitgenosse als Innenarchitekt. Die Salons versammeln nun nicht mehr nur die Bildwelt, zu der man aufbricht, sondern sind selbst Abklatsch dieserart Reisen geworden. Der Konsument von Bildern versammelt um sich die Nachbildungen der Trophäen, die er auf seinen Zimmerreisen erbeutet hat.

Wie einen Salon richteten auch die Verfasser utopischer Literatur ihre Fahrzeuge ein. Das Innere des Projektils, mit dem Jules Verne seine Protagonisten 1865 und 1869 die Reise De la terre à la lune und Autour de la lune antreten lässt, "machte den Eindruck eines bequem und behaglich eingerichteten Zimmers [...], das mit runden Diwans möbliert war." 23 Zur Ausrüstung von Vernes Astronauten gehört neben Fernrohr und anderen Instrumenten eine Kamera, und Michel Ardan, von dem der Entwurf des Geschosses stammt, ist dem Fotografen Nadar nachgebildet, gleichermaßen im anagrammatisch geformten Namen wie in seinem Äußeren, das die Illustrationen darbieten. Verne ließ sich von den Ballonfahrten Nadars inspirieren, die dieser 1858 und 1863 unternommen und von denen er die ersten Luftbildaufnahmen von Paris mitgebracht hatte.

Illustration zu: Jules Verne, Reise um den Mond, 1869 Illustration zu: Jules Verne, Reise um den Mond, 1869 Quelle

In dem phantastischen Roman sind in gewisser Hinsicht die Konturen jenes Reisenden des 20. Jahrhunderts vorgezeichnet, der im Wohnwagen zu seinen Urlaubszielen fährt. Auch er nimmt einen Fotoapparat mit, um später die Reise als Diaprojektion in den eigenen vier Wänden wiederholen zu können. Vom mitgeführten Einzelzimmer aus bricht er zu den Sehenswürdigkeiten auf, die ihm aus Prospekten bekannt sind und in den illustrierten Reiseführern anpriesen werden. Man fährt also zu den Bildern und vergewissert sich der Übereinstimmung von Fotografie und Original. "Landschaftsunternehmer" nennt Jan Christ diesen Touristen: "In Gegenden / die durch die Fortschritte der Fotografie / fotogener wurden / ist jeder Moment / so lassen sie sich endlich sagen / nur so weit ein Moment / als er auch ein Motiv ist / als Trophäe mit nachhaus genommen zu werden [...] / Wir erwarten / daß Sie anhand / der Vorlagen / der zu besichtigenden Objekte / lediglich nachprüfen / ob alles an seinem Platz ist / damit wird in Zukunft / immer weniger besichtigt / vielmehr nur überprüft / Die Genugtuung darüber / ob das Angekündigte auch wirklich existiert / ist eine der schönsten Urlaubserfahrungen [...]" 24 Anfang der 1960er Jahre gibt die Firma Agfa einen "Photo-Stadtplan" und "Tourenkarten" heraus, auf denen jene Stellen markiert sind, von denen aus die eindrucksvollsten Aufnahmen gemacht werden können. 25

Wer nicht selbst fotografieren möchte, erwirbt eine "Kamera", wie sie in den Souvenirläden erhältlich ist und die Joachim Schmid 1984 beschrieben hat: "Auf einer meiner Reisen entdeckte ich in Paris eine kleine Kamera, die ich anfangs lediglich als Kuriosität betrachtete, im Laufe der Zeit allerdings als ideale Reisekamera und, da ich endgültig beschlossen hatte, doch kein Fotograf werden zu wollen, als ideale Kamera überhaupt schätzen lernte. Es handelte sich um eine Vepla Souvenir. Dieses Gerät besteht aus wenigen Teilen, deren äußere die Miniatur einer gewohnten Kamera nachbilden. Auch einige Funktionselemente konventioneller Kameras sind daran vorhanden, andere lediglich angedeutet. Die äußeren Teile umhüllen allerdings weder komplizierte Gruppen von Linsen oder Mikrochips, sondern auf einem kleinen Stück Film meist kreisförmig angeordnete Bilder, die durch den Sucher betrachtet werden können. [...] Das Fotografieren mit diesem Medium unterscheidet sich selbstverständlich in einigen Punkten wesentlich vom gewohnten Bildermachen. So muß man sich erst gewöhnen, daß das Bild bereits mit dem Augenblick, in dem man die Kamera ans Auge setzt, fertig ist, genauso genommen sogar schon vorher." 26

 

Anonym: Berlin, Scheibe aus einer Vepla Souvenir, um 1984 Anonym: Berlin, Scheibe aus einer Vepla Souvenir, um 1984 Quelle

Der Reisende des 21. Jahrhunderts bewegt sich zwar, kommt aber ohne den gewohnten Sitzplatz nicht aus. Dessen Standort hat allerdings gewechselt und damit auch die Umgebung, die als häusliche - im Wohnwagen - mitgenommen oder als dem nahe kommend - im Hotel - erwartet wird. Nun liegt der Betrachtungsstandpunkt also vis-à-vis dem Fernsehgerät oder dem Monitor eines Laptops. Die Möglichkeit, das Programm der heimischen Sender zu empfangen und ein Internetanschluss gewährleisten, dass man gleichzeitig auf Reisen wie zu Hause und überall live dabei sein kann. Ist der Computer oder das Handy mit einer Kamera ausgestattet und erfolgt die Verbindung zum Netz über Funk, so ist die ursprüngliche Situation wieder hergestellt und zugleich übertroffen: Der Betrachter fungiert zugleich als Fotograf, er ist das Gegenüber der Optik, aus deren Reichweite er sich nicht zu entfernen hat - und wiederum ist er zur Unbeweglichkeit verdammt, doch dies an jedem Punkt der Erde.

30.7./ 11.9.2008

© Timm Starl 2008

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