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Der Raum ist nicht etwas Objektives und Reales [...]“
(Immanuel Kant, 1770) 1

„[D]ie Erfahrung beweist uns nicht,
daß der Raum drei Dimensionen hat;
sie beweist uns nur,
dass es bequem ist, ihm drei zuzuschreiben [...]“
(Henri Poincaré, 1906) 2

„Damit es eine Optik gebe,
muß jedem gegebenen Punkt eines realen Raumes
ein und nur ein Punkt in einem anderen Raum korrespondieren,
der der imaginäre Raum ist.“
(Jacques Lacan, 1953/54) 3

Manche Fotokünstler unternehmen den Versuch, die Erscheinungen des Raumes im Bild aufzuheben, also mit dem Fotografischen gegen dessen perspektivische Orientierung der Optik anzutreten. Es ist nicht damit getan, dass die Gegebenheiten vor dem Objektiv im fotografischen Akt unabhängig von ihren realen Positionen in ein planes Nebeneinander überführt werden. Sondern was im Bild sichtbar ist, soll vom Betrachter nicht beziehungsweise nicht ohne weiteres in seine dreidimensionale Ordnung (zurück) übersetzt werden können. Hervorgerufen werden auf unterschiedliche Art Eindrücke ohne Tiefe mit der Folge, dass die so im Bild fixierten realen Erscheinungen nur noch aus flächigen Gebilden und Konturen bestehen. Die Oberfläche der Dinge wird – vergrößert oder verkleinert – in die fotografische Schicht eingeschrieben, doch ihre Stellung zueinander mit der bildlichen Entäußerung der dritten Dimension obsolet. Mit dem Verschwinden der Verhältnisse im Raum erweist sich dieser als ein Entwurf der Blicke, die ihn ermessen, und ein gedankliches Modell, mit dem wir die realen Erscheinungen ordnen.

Stéphane Couturier: Berlin, Charlottenstraße 1996 Max Baumann, „Haft“, o.J.
Stéphane Couturier: Berlin, Charlottenstraße 1996 Quelle Max Baumann, „Haft“, o.J.Quelle

Im Folgenden richtet sich die Aufmerksamkeit auf die vielfältigen räumlichen Vorstellungen, die dem fotografischen Bild – unsichtbar – anhängen. Dabei soll der abstrakte Raum der perspektivischen Konstruktion nur beiläufig Beachtung finden, während das wesentliche Augenmerk auf die transzendenten Sphären gerichtet wird, die sich in diversen, nicht allein künstlerischen Entwürfen eröffnen. So mag die strukturierte Fragestellung als eine Folge von ersten Überlegung zu einem ästhetischen Raummodell verstanden werden.

1       Der Raum der Aufnahme
1.1    Der Raum, den der Fotograf vor der Aufnahme überblickt
      
    Bevor der Fotograf in den Sucher oder auf die Mattscheibe schaut, wird die Gegend observiert, in der sich das Motiv befindet. Der Blick schweift umher, bis sich ein Standort abzeichnet, an dem die Kamera die beste Position einnimmt. Es werden Grenzen abgesteckt, das Objekt in einen gedachten Rahmen gestellt. Was ins Bild eingeht, lässt manchmal – insbesondere bei Architekturdetails und angeschnittenen Personen oder Gegenständen – auf das schließen, was sich zum Zeitpunkt der Aufnahme außerhalb des Ausschnitts befunden hat. Den Bogen des Portals in der Aufnahme von

Auguste Salzmann: Westportal der Grabeskirche, Jerusalem, 1854 Auguste Salzmann: Westportal der Grabeskirche, Jerusalem, 1854, Kalotypie Quelle

Auguste Salzmann aus dem Jahr 1854 wird der Betrachter vervollständigen, auch wenn er teilweise zugemauert und nur mehr die gezähnte Rundung erkennbar ist. Er mag sogar das Mauerwerk, mit dem der Durchgang seinerzeit verschlossen worden ist, in Gedanken entfernen und einen noch früheren Zustand imaginieren, als ihn der Fotograf vorgefunden hat. Denn im Bild wird eine Schwelle angedeutet, die der Blick überwinden möchte, auch wenn ein Dahinter nicht vorgestellt werden kann.

1.2    Der Raum, den der Fotograf nicht überblickt
         
 Alfred Stieglitz hat um die Einzigartigkeit des Motivs, einer Stimmung und seiner Inszenierung willen für seine Komposition „The Steerage“ von 1907 einen extrem engen Ausschnitt gewählt. Doch über das düstere Idyll mit den ärmlich gekleideten Passagieren hinaus berührt die Aufnahme das Elend der Auswanderer, die um die Jahrhundertwende von Europa in die USA kommen. Wenn allerdings die Diagonalen von Schornstein, Mast, Brücke und Stiege das banale Übereinander zweier Deckebenen durchkreuzen, so verstärkt das ästhetische Kalkül die Ansicht, dass alle Spannung innerhalb des Bildes liegt. Stieglitz war Passagier der I. Klasse, deren Atmosphäre ihm nur aus einem einzigen Grund „verhasst“ war: „Man konnte den Neureichen nicht entkommen.“ Seine Perspektive beschreibt der Fotograf rückblickend: „Ich sah den Zusammenhang der Formen, sah ein Bild, das aus Formen bestand und das mein Lebensgefühl zum Ausdruck brachte.“ 4

Alfred Stieglitz: „The Steerage“, 1907 Alfred Stieglitz: „The Steerage“, 1907 Quelle

Auch der Titel weist nicht über den Bildrand hinaus und verschweigt, welche Gruppe von Zeitgenossen als Modelle fungieren. Die Veröffentlichung der Aufnahme vier Jahre nach ihrer Entstehung in der vom Fotografen herausgegebenen Kunstzeitschrift situiert das Bild endgültig in jenen Sphären, in der keine Fragen über die innerbildlichen Erscheinungen hinaus gestellt werden. Auch in der späteren Rezeption, die das Bild zu den Hauptwerken Stieglitz' zählt, wird der soziale Raum ausgeklammert.

2       Der Raum des Ausschnitts
2.1    Der Raum, der durch die Apparatur bestimmt wird
          Das Potential der Objektive und seine Beschneidung mittels Blenden, Schablonen und andere Vorrichtungen werden im Kapitel „Formate“ behandelt und sollen hier nicht wiederholt werden.

2.2      Der Raum, den die beteiligten Personen festlegen
2.2.1   Der Raum, den der Fotograf bei der Aufnahme vorsieht
            Mit dem Blick durch den Sucher oder auf die Mattscheibe ergibt sich gewöhnlich das Ausmaß des Negativs. Nicht bei allen Kameramodellen ist eine völlige Übereinstimmung gegeben, und manche Aufnahmen entstehen spontan und aus freier Hand, so dass der Zufall mitspielt. Der Bildautor bestimmt bei der Aufnahme nicht nur den Umfang des Ausschnitts, sondern mit der Wahl des Objektivs und des Trägermaterials sowie entsprechenden apparativen Einstellungen auch die Tiefenschärfe und strukturiert damit die Übersetzung eines dreidimensionalen Raumes in eine flächige Darstellung. Der Abstand der hintereinander liegenden Erscheinungen wird demnach jeweils verkürzt oder verlängert und kann in den nachfolgenden Schritten der Ausarbeitung nicht mehr verändert werden.

Manche Sichtweisen führen dazu, dass Gestalt und Größe der abgebildeten Erscheinungen nicht oder nicht eindeutig erkennbar sind. Dies ist der Fall bei Verwendung einer Fisheye-Linse oder wenn das Motiv in einem gekrümmten Spiegel erscheint, was zu Verzerrungen führt, deren gedankliche Rückführung auf ihre tatsächliche Gestalt sich nicht bewerkstelligen lässt. Extreme Steilsichten auf

Anonym (Amateur) „Autoportrait de groupe dans une boule de jardin“, um 1900 Umbo-AEG-Wegeesch: ohne Titel, (1937)
Anonym (Amateur) „Autoportrait de groupe dans une boule de jardin“, um 1900 Quelle Umbo-AEG-Wegeesch: ohne Titel, (1937) Quelle

Gebäude oder hohe Gebilde in der Natur verweigern oft eine Fortsetzung der ‘Konstruktion' über den Bildrand hinaus oder lassen mehrere Möglichkeiten zu. Werden Wolken gegen den Himmel fotografiert, ohne dass der Horizont im Bild sichtbar wird, lassen sich Ausmaß wie Struktur der Gebilde nicht nachvollziehen. Die Erscheinungen werden zu abstrakten und kennen – wie alle abstrakten fotografischen Bilder – nur zwei Dimensionen und die Ausdehnung je nach Form und Maß des Abzuges oder dessen Reproduktion.

2.2.2  Der Raum, der bei der Ausarbeitung bestimmt wird
           
Wer immer die Ausarbeitung vornimmt, der Raum, den das Negativ abgesteckt hat, wird oftmals reduziert, indem Teile an den Seiten abgedeckt werden. Aber auch wenn der Umfang des Ausschnitts beibehalten wird, können mit der Wahl des Fotopapiers oder eines anderen Abzugsmaterials ebenso wie durch Korrektur der Farben, der Helligkeitswerte usw. neue Tiefenproportionen hervorgerufen werden. Je nach der ins Auge gefassten Verwendung der positiven Bilder kann ein kleiner Ausschnitt gewählt werden: Ob ein Abzug in ein Album geklebt, für ein Portfolio vorbereitet, zur Präsentation in einer Ausstellung vorgesehen ist, führt dazu, dass auf den vorhandenen Platz, die Rahmengröße und andere Faktoren Rücksicht genommen wird. Man kann auch sagen, dass der Raum zwischen dem Bild und dem Publikum in die Überlegungen einbezogen, also die Position des Bildautors gegenüber den Objekten vor der Kamera verändert wird, indem der imaginäre Betrachter näher an diese herangeht oder sich von ihnen entfernt beziehungsweise diese vergrößert oder verkleinert. Mit der Ausarbeitung des Positivs wird dem Betrachter eine Sichtweise unterlegt.

2.2.3  Der Raum, der sich aus der Art der Reproduktion ergibt
           Ob zur Veröffentlichung in der Presse, in einem Buch oder in anderen Medien bestimmt, können durch die Wahl des Reproduktionsverfahrens, beispielsweise der Drucktechnik, Zäsuren vorgenommen werden, die auf die räumliche Wirkung Einfluss haben. So erscheint Talbots Pariser Boulevard von 1843 bei der schwarzweißen Wiedergabe in steilerer Sicht als bei den getönten beziehungsweise farbigen Fassungen. Was auch daran liegt, dass die Vorlage am oberen Rand beschnitten worden ist. Zudem wirken die Objekte in größerer Entfernung aufgenommen, weil die schwarzweiße Version wegen der gröberen Rasterung weniger Details aufweist.

William Henry Fox Talbot: „Tafel II. Ansicht der Pariser Boulevards“, [1843 William Henry Fox Talbot: „Tafel II. Ansicht der Pariser Boulevards“, [1843], schwarzweißer Offsetdruck Quelle
H. Fox Talbot: „Tafel II. Ansicht der Pariser Boulevards“, [1843 H. Fox Talbot: „Tafel II. Ansicht der Pariser Boulevards“, [1843], braun getönter Lichtdruck? Quelle
William Henry Fox Talbot: „The Boulevards of Paris“, 1843 William Henry Fox Talbot: „The Boulevards of Paris“, 1843, farbiger Offsetdruck Quelle

Darüber hinaus führt der vorhandene Platz für die Wiedergabe häufig zu Korrekturen des Ausschnitts. Insbesondere ist bei Zeitungen und Zeitschriften meist der Textumfang dafür maßgebend, in welcher Größe die Illustration ausgeführt und inwieweit sie beschnitten wird. Auch darin manifestiert sich „die durch Jahrhunderte zementierte Überlegenheit der Sprache über stumme Ausdrucksformen“.5 Gelegentlich entstehen aus rechteckigen Vorlagen quadratische Abbildungen, aus Quer- werden Hochformate. Jede Veränderung – auch ein in den Diagonalen linear verkleinerter Ausschnitt – führt zu einem anderen Raumeindruck.

3       Der innerbildliche Raum
3.1    Der Raum, der durch die Konfiguration der Bildobjekte gebildet wird
          Der Raum im Bild konstituiert sich je nach der Position, den die fotografierten Erscheinungen in diesem einnehmen, und dem Umfang, den sie beanspruchen, sowie der perspektivischen Ordnung, die vorausgesetzt wird. Allerdings müssen die realen Ausmaße der abgebildeten Gegenstände zumindest in etwa geläufig sein, damit sie zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Erhebungen in weit entfernten Bergketten beispielsweise wirken in Bildern oft gleich hoch, weil nicht auszumachen ist, welche näher zur Kamera gelegen hat.

Aufnahmen des Sternenhimmels lassen keine räumlichen Vorstellungen aufkommen, weil die leuchtenden Objekte in der Größe nur geringfügig differieren und die Helligkeit (allein) nicht auf die Entfernung schließen lässt. Bei mikroskopischen Fotografien weiß der Betrachter ohne Fachkenntnisse nicht, ob Dinge in dem Präparat neben- oder hinter- beziehungsweise aufeinander liegen, weil ihre Dispositionen in der Realität nicht bekannt sind. Extrem kleine oder große Entfernungen zwischen Erscheinungen, die sich durch Anschauung in der Realität nicht ermessen lassen, führen auch in der fotografischen Fixierung zu keinen vorstellbaren Differenzen.

3.2    Der Raum, zu dem die Darstellung von Personen führt
          Rollenporträts, Bühnenszenen, Lebende Bilder, Standfotos zu Filmen führen zu den Figuren und Stücken der jeweiligen Künste, sofern diese dem Betrachter bekannt sind, und gegebenenfalls zu den Umständen, unter denen man ihnen begegnet ist. Das Fotografierte wird eingepasst in einen vergangenen Zeit-Raum und von dort aus betrachtet. Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Foto und erinnerten Bildern provozieren ein Changieren zwischen ihnen, bei dem sich die Erscheinungen durchdringen, bis das Vergangene im aktuellen Bild aufgeht. Dieses nicht bewusste Prozedere ist nicht auf die eingangs angeführten Beispiele beschränkt, sondern vollzieht sich als Reaktion auf jedes Bild, bevor beziehungsweise indem es wahrgenommen wird. Sogar bei unbekannten Erscheinungen, die keine Assoziationen hervorrufen, erfolgt ein ‘Erkennen', und sei es wie bei Mikroaufnahmen, in der Weise, dass ein abstraktes Muster, das auf keiner bestimmten Erinnerung fußt, unterlegt wird.

Charles Nègre: Lesender Schüler im Freien, um 1847/50 William Henry Fox Talbot: Nicolas Henneman, um 1842
Charles Nègre: Lesender Schüler im Freien, um 1847/50 Quelle William Henry Fox Talbot: Nicolas Henneman, um 1842 Quelle

Ähnlich verhält es sich mit Porträts von Menschen, die lesen oder schlafen oder – was letztlich nicht von Bedeutung ist – so tun als ob. Diese Modelle befanden sich zum Zeitpunkt der Aufnahme an einem bestimmten Ort, von dem sie sich zugleich entfernt und dorthin begeben haben, wohin sie die Phantasie während der Lektüre oder des Traumes entführt hat. Obwohl diese unsichtbaren Gefilde im konkreten Fall nicht vorstellbar sind und die Erinnerung des Betrachters nirgends Halt zu finden vermag, führen dieserart Bildnisse in uns manchmal zu Erinnerungen, die vertraut erscheinen: Räume der Entrückung, ohne dass diese in der Vorstellung konkrete Formen annehmen könnten.

3.3    Der Raum, den ein Bild im Bild erstehen lässt
          Bilder im Bild – welcher Art auch immer, fotografische und andere – setzen Fluchtlinien, die jenen ihrer Umgebung in irgendeiner Weise zuwider laufen. Sie eröffnen je eigene Perspektiven, die den Schauplatz erweitern, wenn beispielsweise Spiegel eingesetzt und Erscheinungen ansichtig werden, die außerhalb der Reichweite des Objektivs liegen. In jedem Fall, also auch wenn kein direkter Zusammenhang zwischen Bild im Bild und seiner Umgebung erkennbar ist oder das Bild im Bild die Szene dominiert, wird der Betrachter versuchen, eine Verbindung herzustellen. Er möchte einen Raum finden, der sich zwischen den Bildern auftut. Doch steht das Bild immer abseits zu jenem, das es in sich trägt. Auch weil beide in der Regel Produkte zweier Personen sind, vor allem aber Konstrukte anderer Zeiten, die keinen gemeinsamen Raum kennen. Mit der Anwesenheit des kleineren Bildes im größeren ist es zur Spur geworden. Dieserart Kreationen – insbesondere auch bei entsprechenden Objekten der Land Art, die ja erst als fotografische Wiedergaben ihren Ausdruck finden – richten sich immer auch gegen den voreingenommenen Blick und dessen Raumvorstellungen, die dem fotografischen Bild keine eigene Dimension zuerkennen.

Karin Mack: Selbstporträt, 1981 Lois Renner: „Großes Theater 3000“, 1999
Karin Mack: Selbstporträt, 1981 Quelle Lois Renner: „Großes Theater 3000“, 1999 Quelle

Mehrfachbelichtungen entstehen entweder, indem der Standort der Kamera und die Blickrichtung des Objektivs unverändert bleiben, oder je Belichtung ein anderer Ausschnitt gewählt wird. In jedem Fall handelt es sich immer um zwei oder mehr Ansichten, die jeweils eine räumliche Konstellation erfassen. Obwohl in einem einzigen Bild aufgezeichnet, entsteht zwischen den unterschiedlichen Darstellungen kein neuer Raum, denn ihr einziges Verhältnis zueinander ist gleichfalls eines der Zeit. Mehrfach- wie auch Dauerbelichtungen sind wie mehrere Einstellungen in Sequenzen oder Serien anzusehen, und analog gilt das auch für Fotomontagen und -collagen.

4       Der Raum der Betrachtung
4.1    Die Umgebung, in der ein Bild betrachtet wird
          Es besteht ein Unterschied, ob man eine Fotografie in der Wohnung oder in einer Ausstellung, auf der Straße oder in einem Geschäft betrachtet. So wird ein Porträt von Familienmitgliedern – als Abzug an der Wand oder in einem Aufstellrahmen, jedenfalls in vertrauten Räumen – als diesen zugehörig empfunden. Auch wenn die Aufnahme im Freien entstanden ist, wird die abgebildete Umgebung ausgeblendet und die Personen werden zu einem Teil des Raumes, in dem sich der Betrachter befindet – als wären sie in diesen getreten. Wogegen beispielsweise eine unbekannte Landschaft wie durch ein Fenster gesehen wird, als würde ein Blick nach draußen geworfen. Das Geläufige im Bild versetzt dieses in die räumliche Nähe des Betrachters.

In Ausstellungen – wie auch in anderen öffentlichen Bereichen – tritt dieser Effekt nicht auf, vielmehr verkürzt die Betrachtung aus nächster Nähe nicht die Distanz zu den dargestellten Erscheinungen. Die Fremdheit, die fehlende Intimität des Raumes der Exposition liegt wie eine Folie vor dem Bild und erlaubt keine Annäherung, die über die Darstellung hinausgeht. Trifft man auf die Wiedergabe einer bekannten Gegend, erscheint es, als würde man in sie eintreten. Aber es sind bloß die Erinnerung und die gedanklichen Bilder, in denen man sich bewegt, wobei in diesen Augenblicken das Exponat gar nicht (mehr deutlich) gesehen wird, sondern der Blick quasi nach innen gerichtet ist.

4.2    Der mediale Raum, in dem ein Foto auftritt
          Das Foto, das in ein anderes Medium überführt worden ist, hat seine Identität verloren und sich der fremden ausgeliefert. „Nichts wirkt rätselhafter als eine Photographie mitten in einem Film.“6 Rätselhaft erscheint sie deshalb, weil das Gezeigte zwar wie eine Fotografie aussieht, aber nicht nur die (filmische) Reproduktion einer Reproduktion (des Realen) darstellt, sondern auch in einen Raum außerhalb des Raumes der Betrachtung gestellt ist. Der Betrachter müsste den Filmraum ignorieren und nur noch das Foto wahrnehmen, was aber nicht möglich ist. Auch wenn nur das Bild gezeigt wird und dieses das analoge Format zum Film aufweist, also keine Erscheinungen über das Foto hinaus im Film zu sehen sind, bleibt das Bild ein filmisches und die Fotografie eine virtuelle. Betrachtet wird immer nur ein Film, der auch den Raum der Wahrnehmung und Vorstellung bestimmt.

Dieser Raum ergibt sich aus dem Zusammenhang, in den das Foto gestellt worden ist. Der Zusammenhang ist jedoch kein räumlicher, sondern sukzessiv hergestellt worden, bevor das fotografische Bild erscheint, also einer der Handlung beziehungsweise der Erzählung. So gehen zwar die Vorstellungen des Zuschauers über das Bild – was immer auch dargestellt ist – hinaus, bewegen sich aber immer auf einer filmischen Ebene. Besonders deutlich wird die Funktion der Fotografie in einem Film – die eine des Fingerzeiges in die Vergangenheit ist –, wenn das Bild gar nicht zu sehen ist, sondern bloß seine Anwesenheit angedeutet wird. Wenn eine Person einer anderen ein Foto vorhält, worauf sein Gegenüber erschrickt oder eine andere Regung zeigt, und der Zuschauer an dieser erkennt, dass es sich um ein ganz bestimmte Darstellung oder eine bestimmte Person handeln muss. 7

Entsprechend verhält es sich bei Büchern und anderen Druckerzeugnissen, in denen jedes Foto eine Illustration abgibt, also Teil einer Seite oder Doppelseite ist, umgeben von Texten, die je eigene Räume entfalten, sowie leeren Flächen und auch anderen Abbildungen. Gelegentlich werden Bilder abfallend über eine Doppelseite – ohne Text und Pagina – wiedergegeben und das Bild sozusagen frei gestellt, damit es nur noch seine fotografischen Dimensionen zeigen möge. Doch der Bund konterkariert das Vorhaben, und auch wegen des Einschnitts wirken solche Wiedergaben seltsam und sind beiden Medien nicht angemessen. Ohnehin lässt sich der Raum, den das Buch vorgibt, nicht aufheben. Dieser wird nicht zuletzt bestimmt von der Art der Reproduktion, die hinsichtlich Bildgröße (selten der Vorlage entsprechend), Schärfe (abhängig von der Rasterung) und Farbe (je nach Technik) je eigene Dimensionen entwickelt.8

Emile Zola: „Die Sammelbände der ‘Rougon-Macquart‘ hinter einer Plakette und einer Daguerreotypie des sechsjährigen Emile“, um 1897 Emile Zola: „Die Sammelbände der ‘Rougon-Macquart‘ hinter einer Plakette und einer Daguerreotypie des sechsjährigen Emile“, um 1897 Quelle

In Filmen wie auch im Fernsehen, in illustrierten Büchern, aber genauso in Alben ist das einzelne Foto eingebettet in eine Folge von Bildern und Texten, Szenen und Seiten, die je eigene Räume entwerfen. Bevor man eines Fotos ansichtig wird, sind bereits Vorstellungen geweckt, die seinen Platz sozusagen vorformulieren und seiner Gestalt erste Umrisse verleihen. Das generelle wie das jeweils angeschnittene Thema liefern ebenso eine Matrix und geben eine Richtung an wie einzelne Passagen und die Erläuterungen zu dem betreffenden Bild. Liest man eine Publikation über eine Reise, bilden sich Vorstellungen von einer Stadt oder Gegend, und jede fotografische Ansicht bringt neue Facetten ins Spiel. Beim Durchblättern des Familienalbums wird jedes Bild – auch die im Urlaub erworbenen Bildpostkarten – der privaten Sphäre zugerechnet und mit Erinnerungen an die abgebildeten Orte oder Personen angereichert. Der Zusammenhang führt zu einem Raster, der über jedes folgende Bild gelegt wird und dem Blick des Betrachters eine besondere Perspektive auferlegt.

5      Der Raum zwischen Text und Bild
Bild und Text können von verschiedenen Autoren stammen, sie entstehen niemals gleichzeitig und immer aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Formulierung der Bildlegende erfolgt angesichts des bereits vorhandenen Bildes, das identifiziert, betitelt, kommentiert oder zu dem eine Art Gegenposition eingenommen wird. Text und Bild können auch nicht gleichzeitig aufgefasst werden. Entsprechend verhält es sich bei der Rezeption: „Schrift muß gelesen werden, dieser Vorgang braucht Zeit, diese Lese-Zeit steht dann nicht gleichzeitig für die Betrachtung eines Bildes (außer des Schriftbildes selbst) zur Verfügung.“9 Je nach Stellung im oder zum Text kann ein Bild für sich stehen oder in Korrespondenz zu Bildern davor und danach treten; es kann als Argument oder als Illustration verwendet werden. Je nach dem inhaltlichen Bezug erscheinen Bild und Text näher oder ferner, und in diesem Abstand entfalten sich die räumlichen Visionen.

5.1    Der Raum, der von der Bildlegende abhängig ist
          Ein Titel – soweit er sich auf Inhalt oder Machart des Bildes bezieht – und identifizierende Angaben sowie zusätzliche Hinweise – auch zur Entstehung der Aufnahme – bereiten das Terrain vor, auf dem das Bild über das Dargestellte hinaus seine räumlichen Dimensionen entfalten kann. Die Bildlegenden verschaffen dem Bildinhalt zusätzliche Konturen, heben Aspekte hervor, erweitern die raumzeitlichen Koordinaten. Der Aufnahme eines Pariser Boulevards, 1844 als Tafel II in The Pencil of Nature veröffentlicht, hat William Henry Fox Talbot Erläuterungen hinzugefügt: „This view was taken from one of the upper window of the Hotel de Douvres, situated at the corner of the Rue de la Paix. The spectator is looking to the North-West. The time is the afternoon. [...] The weather is hot [...]“10

William Henry Fox Talbot: „The Boulevards of Paris“, 1843 William Henry Fox Talbot: „The Boulevards of Paris“, 1843, Salzpapier Quelle

Mit der Nennung der Stadt im Titel und der Identifizierung des Gebäudes, von wo aus die Aufnahme entstanden ist, sowie dessen Lage hat der Bildraum eine Erweiterung erfahren. Eröffnet wird gewissermaßen ein zusätzlicher Blick in den Rücken des Fotografen, der seine Kamera in einem Hotel postiert hat. Kennt der Betrachter des Bildes Paris oder nimmt er einen Stadtplan zur Hand, vermag er – aufgrund der erwähnten Himmelsrichtung – den Blick auch in jene Regionen zu verfolgen, die von der Kamera nicht oder nur undeutlich erfasst worden sind. Und nicht zuletzt erlaubt die Notiz zur Wetterlage eine Vorstellung der Atmosphäre dieses Tages in der französischen Metropole. „Das Photo ist nichts ohne seine Legende, die sagt, was man zu lesen hat [...]“11

Eduard und Bertha Wehnert: Pauline von der Becke mit dem Bild ihrer Familiengrabstätte, 1845/47

Pauline von der Becke posiert mit einem Bild der Familiengrabstätte, in der ihr jung verstorbener erster Mann und die einzige, mit 16 Jahren verstorbene Tochter begraben lieben.

Eduard und Bertha Wehnert: Pauline von der Becke mit dem Bild ihrer Familiengrabstätte, 1845/47, Daguerreotypie Quelle

Das Fehlen von Informationen führt zu Irritationen – nicht erklärbare, tautologisch anmutende Partien im Bild, seltsam empfundene Ausführungen des Abzugs – und provoziert den Betrachter zu spekulativen Zuweisungen. Ist beispielsweise kein Datum vermerkt, wann die Aufnahme entstanden ist, schwebt das Bild in einem geschichtslosen Raum – wie ein Echo, das von nirgend woher kommt und im Irgendwo verklingt. Es kennt keine andere Zeit als die Gegenwart der Betrachtung. Und der Betrachter bleibt allein auf den innerbildlichen Raum angewiesen, über den er nicht hinaus sehen kann und der letztlich keine anderen Dimensionen eröffnet als empirische und ästhetische – und diese auch ohne Bezug zu einer bestimmten geschichtlichen Phase. Selbst bei Gemäldereproduktionen genügt nicht die Angabe, wann das fotografierte Werk angefertigt worden ist. Sondern erst aus dem Zeitpunkt der Aufnahme erschließt sich beispielsweise, welche Art von farbempfindlichem Negativmaterial Verwendung gefunden haben könnte, welche Qualitätsansprüche für fotografische Kunstreproduktionen gegolten und welche Verwertungsabsichten möglicherweise maßgebend gewesen sind All diese Faktoren finden in der Machart des Bildes ihren – meist ad hoc nicht erkennbaren – Ausdruck. Jedes Mehr an Wissen über die Entstehung und den Gebrauch eines Bildes eröffnet weitere Wege zu seinem Verständnis.

Johann Promberger: „Stilleben (?) [...]“,  1905 – 1925 Johann Promberger: „Stilleben (?) [...]“,
1905 – 1925 Quelle

Fehlende identifizierende und charakterisierende Angaben werden – mit Überlegung, assoziativ oder auch unbewusst – wett gemacht durch Gegensetzung mit erinnerten Bildern oder Merkmalen von Darstellungen, die geläufig sind. Fehlt eine Zeitangabe, finden sich gegebenenfalls in Gestaltung oder Arrangement vor der Kamera Anhaltspunkte, die auf historische Entwicklungen deuten und eine ungefähre Zuordnung erlauben. Sind bei einer Buchillustration die Maße der Vorlage einer Landschaftsaufnahme nicht genannt und der Betrachter kennt dieserart Ansichten vornehmlich als Bildpostkarten, wird er deren Format annehmen. Darüber hinaus wird er aber auch andere Standards der Kartenproduktion dem Bild ohne Größenangaben zuschreiben.

Bei originalen Abzügen lässt unter Umständen die Beschaffenheit des Fotopapiers gewisse zeitliche oder auch geografische Eingrenzungen zu. Solche Zuweisungen entbehren jedoch eines stabilen Fundaments, die Annahmen verweisen nur in eine ungefähre Richtung. Gerne werden undatierte Fotografien mit romantisch wirkenden Sujets oder solchen voll pathetischer Gestik als zeitlose Kunstwerke oder ähnliche Floskeln der Unbestimmtheit apostrophiert und auf eine Ermittlung der genauen Herkunft verzichtet. Doch dieserart Kategorisierungen sind einfach haltlos. Denn jedes kompositorische Kalkül kann nur in jenem zeitlichen, sozialen, kulturellen Umfeld eine adäquate Wertung erfahren, in dem es entstanden ist. Surreale Bildfindungen der 1950er Jahre können nicht als Nachkommen des Surrealismus der 1920er Jahre angesehen werden, dessen Hervorbringungen in Opposition wie in Nachfolge zu ganz anderen Entwicklungen entstanden sind als die Produkte der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.

5.2    Der Raum, der sich in illustrierten literarischen Texten eröffnet
          Der Sprachraum besteht aus Bildern, die sich während der Lektüre entfalten. Ihre Gestalt und ihr Aussehen sind je Leser unterschiedlich, erwachsen sie doch dem Fundus der je eigenen Bilder- und Traumwelt. Sie erfahren jedoch Veränderungen, wenn derselbe Text eine Weile später wieder gelesen wird, sind doch weitere Bilder im Lauf der Zeit dazu gekommen. Manchen Schriftstellern ist daran gelegen, der Phantasie ihrer Klientel Anhaltspunkte zu liefern, indem sie ihre Werke mit Fotografien ausstatten und – zumindest an manchen Stellen – den von ihnen sprachlich entworfenen Bildern Nachdruck verleihen.

In Rom, Blicke von 1979 verwendet Rolf Dieter Brinkmann zumeist Fotografien – eigene Aufnahmen und Ansichtskarten, Akt- und Pornofotos –, aber auch Landkarten, in die er Routen einzeichnet, Fahrpläne und Tickets, Seiten aus Reiseführern und anderen Veröffentlichungen, teilweise mit Anstreichungen. Mit den bildlichen Aufzeichnungen und sonstigen Notizen werden die Gegenden skizziert, in denen er sich aufgehalten hat, Gebäude und Kunstwerke vorgeführt, die er gesehen hat, Darstellungen, die seine Stimmungen beeinflusst oder ihn zu Reflektionen angeregt haben. Die Illustrationen gehen Hand in Hand mit dem Text, doch ohne dessen Kenntnis bleiben sie ausdruckslos und selbstbezüglich. Die Bilder können nicht als selbständiger Essay verfolgt werden, sondern fungieren als Zitate, ohne dass auf sie ausdrücklich hingewiesen wird. Der Text eröffnet erst den Raum, den das Bild ausfüllt.

Ausschnitt von Seite 125 aus: Rolf Dieter Brinkmann, Rom, Blicke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag, 1986 Ausschnitt von Seite 125 aus: Rolf Dieter Brinkmann, Rom, Blicke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag, 1986 Quelle

In Die Ringe des Saturn lässt W.G. Sebald die Bilder immer unmittelbar auf die entsprechende Textstelle folgen, was mitten in einem Satz, ja sogar in der Trennung eines Wortes geschehen kann.

Seite aus: W.G. Sebald, Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt am Main: Fischer, 2004 Seite aus: W.G. Sebald, Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt am Main: Fischer, 2004 Quelle

Bevor der Leser eine Vorstellung entwickeln kann, wird ihm eine Ansicht vorgesetzt. Allerdings sind nur sporadisch Bilder eingeschoben, als wolle Sebald an einigen Punkten der Phantasie des Lesers keinen Spielraum lassen und zugleich immer wieder auf die realen Hintergründe seiner Erzählung hinweisen. Man geht davon aus, dass der Autor an den Orten gewesen ist, die erwähnt werden. Zumal zahlreiche Aufnahmen wie Knipserbilder aussehen und Sebald zugeschrieben werden, obgleich sich in dessen Veröffentlichungen kein solcher Hinweis findet.

Die Position innerhalb des Textes verführt zu der Annahme, der Autor wolle zeigen, wie dies und jenes ausgesehen haben. So dass die Überlegung gar nicht aufkommt, bei den Bildern handle es sich – wie bei den verbalen Beschreibungen – um die besondere Sichtweise dessen, der fotografiert hat. Umso mehr als mit der Verwendung von Reproduktionen von Kunstwerken und anderen planen Vorlagen jeder Gedanke an gestalterische Elemente in den Fotos entgegen gewirkt wird. Mit dem gelegentlichen Einschub entsteht zudem der Eindruck, der Autor verfüge nur an manchen Stellen über bildliche Belege, um seine Ausführungen zu verdeutlichen oder zu unterstreichen. Doch Sebald sucht nach eigenem Bekunden in seinem Fundus nach Fotografien, „bis sie sich irgendwie zusammenreimen“,12 und setzt sie als Markierungen, zu denen sich der Text hin bewegt. Insofern folgt der Text den Bildern – und nicht umgekehrt, wie wohl von den meisten Lesern angenommen wird. Und die Bilder der Fotografie sind ebenso Fiktionen wie jene der Sprache.

Der Essayist und Fotograf Michael Rutschky unternimmt von eigenen Aufnahmen aus – andere verwendet er nicht – Exkursionen und blickt dabei gewissermaßen aus seinen Bildern heraus auf sich, den Schriftsteller, der seine Erkundungen in Worte fasst. Die kurzen Ausflüge geben sich als Erlebnisse, Erläuterungen, Beobachtungen, Erinnerungen, Assoziationen, Bildanalysen; sie operieren mit Zuweisungen, Andeutungen, fiktiven Zitaten, Wortspielen, Karikaturen. Aufgespürt wird das Groteske im Alltäglichen beziehungsweise im Blick des Fotografen beziehungsweise im Kopf des Autors. Die Bilder zeigen meist banale Motive und Konstellationen, so dass sie bei ihrem ersten Auftauchen mehr lakonisch als aufmerksam registriert werden. Die Unterschrift überrascht, irritiert, führt aber nicht zu einem modifizierten Bild, sondern zu einem anderen Standpunkt. Der Betrachter folgt dem Textautor und macht gewissermaßen einen Schritt nach vorn. Worauf die Erscheinungen wie in Bewegung geraten, ohne Position oder Aussehen zu verändern: Sie kommen näher, manche ziehen den Blick auf sich, beginnen zu sprechen, so wie ihnen die Worte in den Mund gelegt werden.

Seiten aus: Michael Rutschky, Auf Reisen. Ein Fotoalbum, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986 Seiten aus: Michael Rutschky, Auf Reisen. Ein Fotoalbum, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986
Seiten aus: Michael Rutschky, Auf Reisen. Ein Fotoalbum, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986 Quelle

5.3   Der Raum, den eine Schrift im Bild hervorruft
         Texte auf Plakatwänden, Fragmente auf Mauern, Namen in Baumstämmen, also vorgefundene Schriften innerhalb des gewählten Ausschnitts, vermögen dem Bild besondere, zusätzliche Bedeutung zu verleihen oder aus ihm hinaus zu weisen. Auch kann selbstverständlich eine Schrift das eigentliche Bildmotiv abgeben.

Guerrier: Selbstporträt Fotograf oder Drucker/Buchbinder?, um 1845 Guerrier: Selbstporträt Fotograf oder Drucker/Buchbinder?, um 1845, Daguerreotypie Quelle

Eine Schrift – sofern sie nur Zeichen ist, das uns nichts sagt – figuriert als nicht mehr denn andere Dinge, die ins Bild geraten sind, ohne die Tür zu einem eigenen Raum zu öffnen. Können wir jedoch mit den Worten eine Vorstellung, eine Erinnerung oder einen irgend gearteten Sinn verbinden, die außerhalb des Bildes liegen, wird ein Raum präsent, der jenen innerbildlich durch die vorhandenen Dinge konstruierten Raum verdrängt und gelegentlich übersehen lässt. In einer Aufnahme von Denis Roche, die wie alle seine Arbeiten nur mit einem Datum, nämlich mit „3 avril 1981“, unterschrieben ist, sind drei Stufen einer Pyramide in Luxor zu sehen. Die Steine weisen hieroglyphische Darstellungen auf, in einen ist von späterer Hand der Name „Rimbaud“ geritzt. Es mag sich ein Tourist dieses Namens auf diese Weise verewigt haben, der Fotograf mag an den französischen Dichter erinnert worden sein, der sich in den 1870er/80er Jahren in Afrika aufgehalten hatte – wie auch immer, mich selbst hat der Name zu diesem besonderen Poeten der Moderne geführt und tut es immer wieder beim Betrachten des Bildes, von dem ich mich jedes mal aufs Neue entferne.

Denis Roche: „3 avril 1981“ Denis Roche: „3 avril 1981“ Quelle

5.4    Der Raum, den eine ins Bild gesetzte Schrift hervorruft
          Wird ein Text oder ein Wort nachträglich in ein Bild gesetzt – es geht hier nicht um Texte oder Fragmente, die das fotografische Motiv beinhaltet –, so fungiert dieser als eine Art Richtungsanzeiger in mehrfach Hin-Sicht. Zu allererst befinden sich die Schriftzeichen auf dem Bild, also der Text kommt vor diesem zu liegen – er wird dem Bild aufgezwungen, ihm vorgesetzt. Gleichwohl rangieren beide auf gleicher Stufe, bedingen sie sich doch, kann und soll das eine ohne das andere nicht bestehen beziehungsweise würde eine Trennung jeweils keinen oder einen anderen Sinn ergeben.

Um der Intention des Künstlers folgen zu können, ist die Kenntnis des Wortes, des Textes Voraussetzung. Text oder Wort stecken den Raum ab, der zwischen den sprachlich und fotografisch geäußerten Ansichten liegt. Je nach Sprache erfolgt das Lesen des Textes in einer bestimmten Richtung, die nichts gemein hat mit den punktuellen und in mehreren Diagonalen verlaufenden Erkundungen des Bildes hinter der Schrift. Bei erster Ansicht des Bildes werden Schrift und Foto als flächiges Nebeneinander wahrgenommen, ein Eindruck, der sich auch nach der Lektüre des Textes und bei wiederholter Betrachtung immer wieder einstellt. Darin geht das ästhetische Kalkül auf, das hinter dieserart Werken liegt und sie (auch) als besondere Kreationen auffassen lässt: als Bild im Bild.

Dominique Auenbacher: Fig. No. 5, 1995 Dominique Auenbacher: Fig. No. 5, 1995 Quelle

Doch eigentlich geht es nicht um die jeweilige Lesbarkeit der beiden gleichrangigen Elemente solcher Bild-/Text-Kombinationen. Sie dienen auch nicht dem gegenseitigen Verständnis, sie deuten in verschiedene Richtungen, operieren auf anderen Ebenen, verwenden ungleiche Mittel. Eines ist eine Sprache, das andere eigentlich nicht – „bestenfalls [...] das Objekt spricht“13 , wie Roland Barthes feststellt – will man es genau nehmen, obwohl häufig von einer Bildsprache die Rede ist. Auch die Zeit der beiden ‘Kontrahenten' ist nicht die gleiche, der Raum ein jeweils eigener – immer handelt es sich um ein Spiel, um die phantasievolle Konstruktion zweier unvereinbarer Äußerungen durch den Künstler und um die Anstrengungen des Betrachters, sie zu vereinen.

Jochen Gerz: FW #2, 50 x 40 cm, 1969

Das Buch war weich und flexibel. Die Seiten traten durch die lichtundurchlässige Hülle beim Berühren hervor, auf der stand: diese Seiten wurden im Dunkeln auf unbelichtetes Fotopapier geschrieben. Ans Licht gebracht würden sie vergilben und ihre Beschriftung unleserlich. Im Dunkeln können sie die Schrift auch in Zukunft aufbewahren.

Jochen Gerz: FW #2, 50 x 40 cm, 1969 Quelle

6      Der Raum des Archivs
6.1   Der Raum, in dem eine Fotografie aufbewahrt wird
         Fotos (Unikate, Negative, Abzüge, Reproduktionen) werden gesammelt in Museen und anderen öffentlichen Einrichtungen, in Bildagenturen, in privaten Sammlungen und Haushalten; sie werden temporär gezeigt in Ausstellungen, Schaufenstern, bei Dia-Vorführungen und Ausweiskontrollen, auf Monitoren; sie werden gelagert in Kellern und klimatisierten Räumen, Wohnräumen und Lagern; sie sind aufbewahrt in Regalen und Rahmen, Alben und Schuhkartons, Kuverts und Plastikhüllen. Das Wissen um den ständigen oder früheren Standort und die Bedingungen des Bewahrens eröffnen besondere Gesichtspunkte der Anschauung.

Die Herkunft einer Fotografie aus einer völkerkundlichen Sammlung beispielsweise besagt, dass ein Kurator zu einem früheren Zeitpunkt in dem Bild Anhaltspunkte entdeckt hat, die ihm bezeichnend für die Ethnie einer Gruppe von Menschen in einer bestimmten Gegend der Erde erschienen sind. Wird der Abzug in einer Ausstellung zur Geschichte der Porträtfotografie vorgeführt und der Besitzer – das Museum – genannt, führt dies zu unterschiedlichen Lesarten des Bildes. Mit dem einen Blick erfolgt eine Einordnung in die Folge der Exponate, also wird beispielsweise das Augenmerk auf gestalterische Merkmale gelegt, für die im entsprechenden Abschnitt der Ausstellung Beispiele aneinander gereiht sind. Der Bild ist zu einer Facette der Ausstellung geworden und damit quasi Bild im Bild. Der andere Blick verharrt im Bild und sucht im Fundus der früher gesehenen Aufnahmen mit ethnografischem Hintergrund nach Entsprechungen, durch die der Zeit-Raum Gestalt gewinnt.

Stammt eine Fotografie aus der Kollektion eines Kunstmuseums, wird der Betrachter der Komposition einen gewissen Kunstwert und dem präsentierten Exemplar einen gewissen Marktwert zusprechen. Dies kann bei manchen Bildern zu einer verengten Sichtweise führen, da nur mehr die ästhetischen Momente Beachtung finden, nicht aber beispielsweise die sozialen Implikationen, die im Vorfeld der Aufnahme für den Auftraggeber oder den Fotografen gegolten haben. Wie auf der anderen Seite an ein Porträt, von dem bekannt ist, dass es als Ausweisbild Verwendung gefunden hat, keine Frage nach den Inszenierungen des Modells vor dem Automaten gestellt werden, sondern bloß noch sein dokumentarischer Wert registriert wird. Ein späterer Abzug von fremder Hand – um ein letztes Beispiel anzuführen – mag die Vermutung aufkommen lassen, dass der Vintage print (ein Abzug, den der Bildautor kurz oder bald nach Entstehen der Aufnahme hergestellt hat) noch andere Nuancen in den Tonwerten oder Kontrasten aufweisen könnte.

Wie eine Kleidung umschließen die Merkmale der Sammlung, in dem sich das vorliegende Exemplar befunden hat beziehungsweise befindet, eine Fotografie: sie betonen manche Aspekte und vernachlässigen andere. Mehrere Blickwinkel können ebenso den Horizont erweitern wie verkleinern, indem sie sich behindern. Es ist erforderlich, alle Informationen zu berücksichtigen, aber auch sich ihrer zu entledigen und ein Bild so anzusehen, als wüsste man nichts von seiner Entstehung und dem wechselnden Gebrauch. Mit diesem naiven Blick wird erst jener Boden bereitet, der die größtmögliche Zahl an Fragen aufwirft und zulässt.

6.2  Der Raum, den die Erinnerung öffnet
       Mit dem Anblick einer Fotografie werden – bewusst oder nicht – Bilder aus dem Gedächtnis aufgerufen, zu denen diese ins Verhältnis gesetzt wird. Die erinnerten Bilder mögen gemalte oder gezeichnete, solche der Wirklichkeit oder der Träume sein – sie kommen ungerufen und provozieren Zustimmung, Gleichgültigkeit oder Ablehnung. Dazu kann auch dasselbe fotografische Bild gehören, das an anderer Stelle und in anderer Ausführung – in einer Ausstellung, einem Buch usw. – bereits gesehen worden ist. Es hat aber – als erinnertes Bild – andere, unscharfe Züge angenommen.

Die Bilder des Gedächtnisses, ihre Motive und Darstellungen wie auch die Gestalt der Bildträger erscheinen zumeist undeutlich. Schemenhaft tauchen sie auf, oft mehrere zugleich und wie übereinander kopiert. Je genauer man ein Bild erinnert, desto weniger taugt es zu Vergleichen. Das Bild, das mich seit Jahren eine Person am deutlichsten erinnern lässt, entstand um 1950. Die Aufnahme zeigt meine Großmutter vor der Kirche in Mettmach, einem Dorf im Innviertel. Sie steht vor einer mit Kletterpflanzen bewachsenen Wand. Sie hat ihr Sonntagskleid angezogen und hält eine

I.S.: Maria Fritz, Mettmach, um 1950 I.S.: Maria Fritz, Mettmach, um 1950 Quelle

Tasche im Arm, die ihr zusammen mit den Handschuhen von der fotografierenden Schwiegertochter für das Foto aufgedrängt worden ist. Die Eleganz der Tasche und der Handschuhe passt nicht recht zu dem einfachen Kleid. Das Bild hat alle übrigen Porträts der Großmutter, die 1961 gestorben ist, verdrängt, und ihr Gesicht mit einem zarten Lächeln ist mir deutlicher in Erinnerung geblieben als der Anblick bei den letzten oder früheren Begegnungen. Das Bild fällt mir immer ein, wenn ich an die Großmutter denke, und niemals, wenn ich andere Fotos der Familie oder anderer Provenienz ansehe.

Begegnet man der Fassung eines Bildes, das bisher nur in einer retuschierten Fassung bekannt gewesen ist, wird die unbearbeitete Stelle als Störung empfunden. Sie bringt die Darstellung aus dem Gleichgewicht. Als wäre dem Bild an dieser Stelle eine Verletzung zugefügt worden, so doch die Retusche ein Eingriff gewesen ist. Das zuerst gesehene Bild hat sich als das originale eingeprägt. Wie sich die leidige Frage nach dem fotografischen Original als überflüssig erweist, sofern das – in welcher Form auch immer – jeweils vorliegende Bild als Original angesehen wird. Wofür ich plädiere. Denn immer ändert sich unsere Sichtweise, und es öffnet sich ein anderer Raum, der dem Bild neue Bedeutung verleiht.

 

16.2.2009

© Timm Starl 2009

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