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„[V]ielleicht suchte [...] Daguerre ein irdisch heiteres Ziel
und schloß den Himmel auf.“
(Karl Bahrs, 1839) 1

„Wir liegen auf dem Boden
und schauen auf die Sterne hinauf.
Dort haben die Geschichten nämlich begonnen,
unter der Ägide jener Vielzahl von Sternen,
die nachts Gewißheiten stibitzen
und sie zuweilen als Glauben wieder zurückgeben.“
(John Berger, 1986)2

Die ersten Menschen machten sich ihr Bild von der Welt, indem sie in den Himmel schauten. Mit gestreckten Daumen und Zeigefingern, die sie aneinander setzten, wurde eine Art Rahmen gebildet. Diesen hielten sie vor die Augen und durchsuchten das nächtliche Firmament. In einigen Konstellationen der Sterne meinten sie, irdische Figuren zu erkennen und benannten diese entsprechend. So füllte sich der Himmel allmählich mit Erscheinungen, deren Namen auf die Erde wiesen. Der Blick auf die Gestirne fällt immer auf etwas Geläufiges. (In den Himmelsgloben hat das Gewölbe, als welches das sternenklare Firmament über unseren Köpfen erscheint, die Form der Erdkugel angenommen, auf die wir zu schauen gewohnt sind.) Die Vorstellungen eines entfernten Kosmos reichen nicht weiter als bis zu den Grenzen des eigenen Daseins und der individuellen Erinnerungen. „Es gibt einen Planeten im Sternbild des Goldes, ich nenne es so, denn irgendeinen Namen muß man neuen Erfindungen geben. Viele Jahre werden noch vergehen, bis man ihn wissenschaftlich erfassen können wird. Der Planet ist ungefähr so groß wie die Erde und wird von Menschen, die ungefähr so sind wie wir, bewohnt. Wenn man ihn überfliegt, erkennt man kein Lebenszeichen. Er ist tot und erloschen. Aber dort wohnen Menschen.“3

Der Blick in den Himmel ist bestimmt von der Suche nach einem Halt, einem festen Punkt, von dem aus die Welt überschaubar und erklärbar wird. Er kommt dem Versuch gleich, im Unendlichen (der Natur) die Endlichkeiten (des menschlichen Lebens) einzuordnen. Von jener außerirdischen Plattform, die nur als Anschauung, also in der Zeit, existiert, reflektiert der Blick, der bloß den äußeren Anschein wahrzunehmen vermag. Den ewigen Himmelserscheinungen, deren räumliche Beschaffenheit nur mittels Maß und Zahl, demnach abstrakt, als ihr Verhältnis zueinander vorstellbar ist, wird die fotografische Kamera in umgekehrter Weise gerecht: Sie schafft einen besonderen Raum und hebt die Zeit auf.

Odilon Redon: „Das Auge strebt wie ein seltsamer Ballon zum Unendlichen hin“, 1882 Odilon Redon: „Das Auge strebt wie ein seltsamer Ballon zum Unendlichen hin“, 1882 Quelle

Die Betrachtung des Himmels ist erfüllt von Bewegung, die nicht wahrgenommen werden kann. Denn die im Weltall auftretenden Veränderungen erscheinen aufgrund ihrer Entfernung so langsam, dass unser Auge sie nicht zu registrieren vermag (sieht man von den seltenen Ereignissen der Sonnen- und Mondfinsternis sowie des Auftauchens von Kometen ab). Erst recht lässt sich die Tiefe des Alls visuell nicht erfassen, und so erscheint der Sternenhimmel als ebene Fläche voll glitzernder, unbewegter Gebilde. Es muss die frühen Lichtbildner fasziniert haben, dass sie über ein Medium verfügten, das etwas so wiedergab, wie es sich auch der natürlichen Anschauung darstellte. Im Gegensatz zu irdischen Ansichten musste das Nebeneinander der Bildobjekte gedanklich nicht als ein Hintereinander im Realen interpretiert werden, gab es keinen Unterschied – die Verzerrungen der damaligen Linsen außer Acht gelassen – zwischen der Perspektive der authentischen Sicht und jener des Objektivs.

Wie mit dem Teleskop der Sternenhimmel beobachtet werden konnte, ließ sich mit der Lupe dessen fotografische Aufzeichnung untersuchen. Was die Astronomen begeisterte, die die Fotografie rasch für ihre Zwecke einsetzten, um sich schließlich vollständig auf sie zu verlassen: Während 1846 die Entdeckung Neptuns, des letzten der acht Planeten, nach dem Augenschein erfolgte, begann gegen Ende des Jahrhunderts ein neues Zeitalter, nachdem „es Wolf in Heidelberg (1891) gelungen [war], mit Hülfe der Photographie kleine Planeten zu entdecken [...]“4 Von nun an sollten sämtliche neuen Himmelskörper niemals mehr im direkten Blick durch ein Teleskop, sondern ausschließlich als fotografischer Niederschlag wahrgenommen werden.

Noch eine weitere Analogie tat sich auf: Die Blicke zum Himmel trafen auf etwas, das bereits vergangen war. Dem Maler Eugène Delacroix erschien dieser Sachverhalt bedeutsam genug, und er notierte 1850 in sein Tagebuch, „[...] daß das Licht der Sterne, von denen die Daguerreotypien angefertigt wurden, 20 Jahre braucht, um die Entfernung zur Erde zurückzulegen. Daraus folgt, daß der Lichtstrahl, der auf der Platte festgehalten wurde, die himmlische Sphäre lange Zeit verlassen hat, bevor Daguerre das Verfahren erfand, durch das wir in der Lage sind ihn aufzunehmen.“5 Es ist ein melancholischer Blick, der auf das fotografische Bild fällt und sich in den Himmelsbildern verliert.

Keiner Bewegung und keinem Raum sollte die Fotografie jemals näherkommen als in ihren Ansichten vom Himmel.

A. Niklitschek: „‘Tanz der Sterne’ (Aufnahme des  Himmelsnordpoles), Ernostar 1:2, f=10 cm, Agfa-ISS, 2 Stunden Belichtungszeit, Rapidentwickler“
A. Niklitschek: „‘Tanz der Sterne’ (Aufnahme des
Himmelsnordpoles), Ernostar 1:2, f=10 cm, Agfa-ISS, 2 Stunden Belichtungszeit, Rapidentwickler“

„Eine seltsame Aufnahme
Eine der merkwürdigsten und interessantesten Aufnahmen, die jedermann machen kann, wird auf folgende Weise getätigt: in einer sternklaren, mondscheinlosen Nacht wird die Kamera mit auf ‘Zeit’ eingestelltem Verschluß gegen Nord so aufgestellt, daß die Kameraachse (= optische Achse) etwa 45 Grad emporsieht. Dann wird der Verschluß geöffnet und etwa 2 Stunden lang belichtet. Das erhaltene Bild ist überraschend. Bei hinlänglich langer Belichtungszeit heben sich die nächsten Gegenstände des irdischen Vordergrundes lichtlos schwarz gegen den in einem tiefen Mittelton wiedergegebenen Himmel ab, auf dem sich aber die Sterne infolge des täglichen Erdumschwungs als konzentrische Kreisbogenstücke in überraschend großer Zahl abgebildet haben. Ein Stern, und zwar der, welcher dem Mittelpunkt aller Kreise am nächsten steht, hat sich am wenigsten weit fortbewegt; es ist der Polarstern. – Soferne es die Witterungsumstände erlauben, d.h. nicht etwa eintretende Bewölkung oder sich auf der Frontlinie des Objektivs niederschlagender Tau die Aufnahme verderben, zeigen die Bilder stets ein anderes Aussehen. Und das kommt davon her, daß so gut wie alle Aufnahmedaten in dieser merkwürdigen Aufnahme mitabgebildet sind. Die Länge der Sternspuren-Kreisbogen ergeben zunächst einmal im Winkelmaß ausgedrückt sehr genau die Belichtungszeit. Da nämlich der gesamte Himmel scheinbar einmal in 24 Stunden seine Umdrehung vollendet, so entspricht einem Sternweg von 15 Bogengraden auf dem Bilde eine Belichtungszeit von genau einer Stunde. [...]“

Dr. A.N. [= Alexander Niklitschek], „Eine seltsame Aufnahme“, in: Fotografische Rundschau und Mitteilungen. Organ des Reichsbundes deutscher Amateur-Fotografen, 79. Jg., 1942, S. 25

 

8.3.2010

© Timm Starl 2010

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