„Melancholie bedeutet,
ein Bild der Welt zu lieben,
von dem man weiß,
dass es nur ein Bild ist. [...]
(Yves Bonnefoy, 2005)
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Yves Bonnefoy, „Melancholie, Wahnsinn, Genie – Poesie“, in: Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst, hrsg. von René Clair, Ausstellungskatalog Réunion des Musées Nationaux und Staatliche Museen zu Berlin, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2005, S. 14-22, hier S. 15.
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Über Melancholie schreiben heißt, Worte finden für etwas, das man nicht erklären kann. Es liegt nicht an fehlenden Begriffen, vielmehr sind im Laufe der Zeit zahlreiche aufgekommen, die mit ihr in Verbindung gebracht werden. Am erfindungsreichsten gebährdeten sich jene, die Melancholie als Zustand beschreiben wollten. Dann ist die Rede von Schwermut und Wehmut, Schwarzsehen und Schwerblütigkeit, Trübsinn und Gedankenverlorenheit, Überwachheit und Versonnenheit, „Leiden an der Welt“
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Ulrich Horstmann, „Nachwort“, in: Robert Burton, Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten [The Anatomy of Melancholy, 1621], Nach der 6. Auflage von 1651 aus dem Englischen übertragen von Ulrich Horstmann, München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1991, S. 333-349, hier S. 345.
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und „Heimweh ohne Ziel“
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Dieter Bachmann, „Brocken, Brosamen“, in: DU. Die Zeitschrift der Kultur, Thema: Melancholie – Momente eines Zeitgefühls, Nr. 11, November 1988, S. 11-15, hier S. 11.
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László F. Földényi, Melancholie [Melankólia, 1984], Aus dem Ungarischen von Nora Tahy, durchgesehen von Gerd Bergfleth, München: Matthes & Seitz, 1988 (Batterien 35), S. 352.
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und „Taumeln im Dunkeln“
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Péter Nádas, „Melancholie“, Deutsch von Christina Viragh, in: ders., Heimkehr. Essays, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999, S. 70-107, hier S. 75.
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. Man fand Farben, die der Melancholie zugeordnet wurden: das Grau von Blei, das dunkle Blau der Tinte, das „Schwarz“ der Galle. Ihre Himmelsrichtung sei der Norden, ihre Jahreszeit der Herbst, als Tageszeit gelte die Dämmerung. Halbdunkel und Nebel würden dafür sorgen, dass das Wirkliche im Ungefähren bliebe und das Jetzt hinter die Erinnerung trete.
Dem Melancholiker wird von Sigmund Freud nachgesagt, er sauge „Trauer aus jedem Ereignis“.
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Sigmund Freud, Brief vom 1. Mai 1873 an Emil Fluß, in: ders., „Selbstdarstellung“, Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, hrsg. und eingeleitet von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag [1971], 1978, S. 115-118, hier S. 116.
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Und nach László F. Földényi zählten zu ihnen alle Zeitgenossen, „die nicht nur die Gesetze des Innerzeitlichen, sondern auch die über die Zeit hinausgehenden erkennen und die deren Möglichkeiten und Grenzen erblicken. Das sind: die Wahrsager, die Wahnsinnigen, die außerordentlichen Menschen, die Philosophen [...]“.
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László F. Földényi, Melancholie [Melankólia, 1984], Aus dem Ungarischen von Nora Tahy, durchgesehen von Gerd Bergfleth, München: Matthes & Seitz, 1988 (Batterien 35), S. 42.
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Nicht zuletzt würden bestimmte Haltungen und Gesichtsausdrücke auf eine entsprechende Disposition deuten: die Augen zum Boden gerichtet, den Kopf schräg in die Hand gestützt, ein verhangener Blick, nach unten fallende Mundwinkel, eine bewölkte Stirn, was Charles Darwin unter anderem als Zeichen der Melancholie festmachte.
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Vgl. Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei den Menschen und bei den Thieren [The expression of the emotions in man and animals, 1872], Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus, Stuttgart: E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch), 1872, S. 184.
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Die große Zahl der Zuschreibungen berührt die Melancholie am Rande, ohne das Unbekannte fassen zu können. „Wenn wir irgendetwas beim Namen nennen, kommen wir der Melancholie nicht näher, sondern versuchen ihr lediglich ein Schema aufzuzwingen.“ Die Sprache bemühe sich, so László Földényi in seiner bemerkenswerten Studie von 1984, „die Melancholie zu vergegenständlichen, wobei es doch keinen einzigen Gegenstand gibt, an den sie sich binden ließe [...]“
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László F. Földényi, Melancholie [Melankólia, 1984], Aus dem Ungarischen von Nora Tahy, durchgesehen von Gerd Bergfleth, München: Matthes & Seitz, 1988 (Batterien 35), S. 189.
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Wie aber wäre ein Zusammenhang zur Fotografie herzustellen, die sich gleichfalls dadurch auszeichnet, dass sie seit Gedenken von zahlreichen Begriffen – ich möchte sagen – geradezu umschwärmt wird. Diese immer neuen Bestimmungen sind vor allem auch der Tatsache geschuldet, dass jede Epoche ihre eigenen Fragen und passenden Termini entwickelt. Womit immer andere Seiten ihres Charakters hervortreten beziehungsweise aufgetan werden.
Man könnte vielleicht dort ansetzen, wo ein Gemeinsames von Melancholie und Fotografie bereits entschieden konstatiert worden ist, nämlich deren ausschließliche Ausrichtung an dem, was gewesen ist. Mit dem Akt der Bildwerdung präsentiert die Fotografie ihre Gegenstände als Erscheinungen eines früheren Jetzt. Die Beziehung zur Vergangenheit sei auch „der entscheidende Punkt in der Problematik der Melancholie“, meint Roland Recht im Gegensatz zu Földényi und im gleichen Jahr, als dessen deutsche Version erscheint, und fährt fort: „Die Vergangenheit ist nicht nur das zentrale, sondern gleichsam auch das einzige Objekt, das der melancholische Blick fixiert.“ Ihr Bestreben sei, „die Zeit anzuhalten.“
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Roland Recht, „Das Saturnische in der Kunst des 20. Jahrhunderts“, in: DU. Die Zeitschrift der Kultur, Thema: Melancholie – Momente eines Zeitgefühls, Nr. 11, November 1988, S. 73-74, 89, 91, hier S. 74, 89.
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Wobei eine Gleichsetzung der Blicke unangebracht wäre, auch wenn beide sich auf Abstraktionen richten. Denn beim fotografischen Blick geht dem des Betrachters noch jener des Bildautors voran, er sieht demnach auf ein Bild, das ein anderer Blick hervorgebracht hat, während der Melancholiker auf ein selbst erinnertes, früheres Geschehen blickt.
Führte man diesbezüglich die Analogien weiter, um sie zu konkretisieren, ständen bald der Tod und die Erinnerung zur Verhandlung. Und als Exempel böte sich an, mehrere Exponenten der vergangenen Jahrhunderte aufzurufen, die das Porträt von Verstorbenen in die Diskussion eingeführt haben, um ihrem Thema näher zu kommen. In demselben Jahrzehnt, als Daguerre, Talbot und Bayard ihre ersten Kreationen gelangen, lässt Johann Nestroy seinen Melancholiker angesichts eines Konterfeis seiner verstorbenen Frau ausrufen: „Das war sie! Das Abbild eines Engels, wie sie hier vor mir im Bilde steht.“
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Johann Nestroy, Das Haus der Temperamente. Posse mit Gesang in zwei Akten [1837], in: ders., Komödien. Hrsg. von Franz H. Mautner, Frankfurt am Main: Insel, 1970, Bd. 2, S. 5-136, hier S. 51.
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Gut einhundert Jahre später sinniert einer der Helden von Georges Simenon: „Neben dem Spiegel hing ein großes Foto seiner Mutter. Stimmte es, daß die Fotos von Verstorbenen langsam verblichen, sich mit einem Schleier der Melancholie bedeckten?“
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Georges Simenon, Weder ein noch aus. Roman [Au bout du rouleau, 1946], Deutsch von Elfriede Riegler, Zürich: Diogenes, 1985, S. 221.
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Schließlich, kurz bevor die ersten Stimmen zu vernehmen waren, die das Ende der analogen Fotografie ausriefen, sinnierte Roland Barthes vor dem Bildnis seiner Mutter über das Wesen der Fotografie.
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Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie [La chambre claire. Note sur la photographie, 1980], Übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 73 ff.
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Man fragt sich, ob solche Exkurse zu den literarischen Konstrukten einer Komödie, eines Kriminalromans und einiger Bemerkungen zum Fotografischen mehr als die Gewißheit ergeben, dass der Verlust geliebter Menschen angesichts ihrer bildlichen Präsenz neue Bilder provoziert: den Engel, den Schleier, die Fotografie. Diese ist ja nicht nur selbst Bild, sondern die Existenz, die der Porträtist seinen Modellen verleiht, sei doch – wie Barthes anmerkt – „nur eine metaphorische.“
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Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie [La chambre claire. Note sur la photographie, 1980], Übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 19.
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Gleichwohl bestärkt mich eine solche Gleichung in meinem Vorhaben, von Bildern auszugehen, also zunächst Fotografien auszuwählen und mich mit diesen auseinanderzusetzen, um dem Verborgenen in Melancholie und Fotografie beziehungsweise dem Melancholischen im Fotografischen nachzuspüren. Aber nach welchen Kriterien sollten Bilder bereitgestellt werden? Ich denke, dazu bedarf es keines Schemas, sondern ich lasse mich von Zufällen und vom Gefallen leiten. Zumal ich eine Vermutung zugrunde lege: Dass sich eine Erkenntnis zum Konnex von fotografischer und melancholischer Wesensart darin eröffnet,
wie fotografischen Ansichten begegnet wird. Demnach kommt jedes Bild in Betracht. Ob ich seinen Kunstwert bestimmen möchte, seine Nähe zum Realen, seine Schönheit, seinen Stellenwert im Schaffen des Autors und der Zeit, in der er gelebt hat – was auch immer: Wie reagiert man auf Bilder? Welche Fragen werden gestellt? Wie gelange ich zu meinen Einschätzungen? Nicht das Bild ist melancholisch, auch nicht eine bestimmte Stimmung des Betrachters, sondern es kommt auf den Blick an, der auf ein fotografisches Werk fällt und (s)ein Bild entwirft.
Ich habe mich für Fotos entschieden, die nicht oder nur selten veröffentlicht worden und daher mit keinen oder wenig Interpretationen befrachtet sind. Gelegentlich wurde ein Bild gewählt, weil ein Kommentar des Bildautors vorgelegen hat. Fallweise wird ein anderes Bild daneben gestellt. Was immer ich zu den Bildern äußere, soll nicht als Beispiel für melancholische Anschauung verstanden werden. Doch werde ich mit Begriffen operieren, die ich – ohne sie in jedem Fall auszusprechen – gleichermaßen zur Charakterisierung von Melancholie und Fotografie für aufschlussreich halte. Das sind: die Leere, das Diffuse, die Ahnung, das Relikt, die Verhüllung, der Verfall, die Ordnung ...
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Jean-Eugène-Auguste Atget: „L’Eclipse – Avril 1912“ Quelle
Quelle Jean-Eugène-Auguste Atget: „L’Eclipse – Avril 1912“ (aus: Begierde im Blick. Surrealistische Photographie, Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2005, S. 72)>
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Die schaulustigen Männer, Frauen und Kinder hat die Sonnenfinsternis am 17. April 1912 auf der Place de la Bastille zusammengeführt. Sie verbindet für wenige Augenblicke ein Ereignis von kurzer Dauer, bei dem sich der Tag verfinstert, als würde ein Unwetter hereinbrechen, um sich nach kurzer Zeit wieder aufzuhellen. Alle schauen in dieselbe Richtung und halten ein mit Ruß oder anders gedunkeltes Glas vor sich. Nur einen jungen Mann neben dem Kandelaber interessiert das Tun des Fotografen mehr als das Schauspiel am Himmel. Er mag zu jenen gehören, die bleibende Bilder den flüchtigen vorziehen und der im Akt des Fotografierens ein Moment des Bewahrens erkennt.
André Breton veröffentlichte die Aufnahme am 15. Juni 1926 auf dem Umschlag der Zeitschrift
Le Révolution Surréaliste und gab ihr den vieldeutigen Titel „Les dernières conversions“. Möglicherweise deutete er die Szene rückblickend als einen Blick in eine bessere Zukunft, die sich seiner Auffassung nach seit dem Ende des Ersten Weltkriegs aufgetan hat. Die beteiligten Zeitgenossen wird der Vorgang in erster Linie als visuelles Erlebnis fasziniert haben. Doch manch einen mag dabei ein seltsames Gefühl beschlichen haben, als sich plötzlich ein Dunkel über die Stadt legte, der Lärm des Straßenverkehrs aussetzte und die Vögel verstummten. „Wie herrlich, wie furchtbar!“ So empfand Adalbert Stifter 70 Jahre davor die Sonnenfinsternis, die er am 8. Juli 1842 in Wien beobachtet hatte:
„Endlich zur vorausgesagten Minute – gleichsam wie von einem unsichtbaren Engel empfing sie [die Sonne] den sanften Todeskuß – ein feiner Streifen ihres Lichtes wich vor dem Hauche dieses Kusses zurück [...] – ‘es kommt’ riefen nun auch die, welche bloß mit dämpfenden Gläsern, aber sonst mit freien Augen hinaufschauten – ‘es kommt’ – und mit Spannung blickte nun alles auf den Fortgang [...] Indes nun alle schauten [...], wuchs das unsichtbare Dunkel immer mehr und mehr in das schöne Licht der Sonne ein. [...] erschütternd war dieses allmähliche Sterben mitten in der noch vor wenigen Minuten herrschenden Frische des Morgens. Wir hatten uns das Eindämmern wie etwa ein Abendwerden vorgestellt, nur ohne Abendröte; wie geisterhaft aber ein Abendwerden ohne Abendröte sei, hatten wir uns nicht vorgestellt, aber auch außerdem war dies Dämmern ein ganz anderes, es war ein lastend unheimliches Entfremden unserer Natur [...]“ Wie eine Erlösung wird das Ende des Spektakels kommentiert: „[W]ir hatten unsere Welt wieder [...], die Dinge warfen wieder Schatten.“
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Adalbert Stifter, „Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842“, in: ders., Wien. Die Sonnenfinsternis, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1983 (Universal-Bibliothek Nr. 8850), S. 71-81, hier S. 74-76, 79.
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Der Eindruck des Gesehenen findet seinen Niederschlag in der Wortwahl: Nicht das wieder ungetrübt scheinende „schöne Licht der Sonne“ wird begrüßt, sondern auf jene dunklen Bilder verwiesen, die ständig um uns sind: die Schatten. Als könnte sich die Sprache nicht lösen von der Erfahrung, die eben gemacht worden ist. Dass nämlich erst das Dunkel und die Unschärfe manche Erscheinungen deutlich macht. Dass ein gedunkeltes Glas vor Augen dazu verhilft, etwas besser zu sehen. Dass ein Medium das Reale ebenso näher bringt wie manches von ihm verbirgt.
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William Henry Fox Talbot: „Bookcase“ at Lacock Abbey, 26. November 1839
Quelle
Quelle William Henry Fox Talbot: „Bookcase“ at Lacock Abbey, 26. November 1839, Salzpapierabzug von einer fotogenischen Zeichnung, Bild 13,9 x 20 cm auf Papier, 18 x 21,9 cm (aus: Larry J. Schaaf, The Photographic Art of William Henry Fox Talbot, Princeton and Oxford: Princeton University Press, 2000, S. 65)
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William Henry Fox Talbot hat von 1839 an über mehrere Jahre Teile des Inventars seines Landsitzes in Lacock Abbey aufgenommen: Gläser, Gegenstände aus Porzellan, Bücher, jeweils in Regalen aufgereiht beziehungsweise eingeordnet. Die Szene vom 26. November 1839 gibt die besonderen Potentiale des Mediums nur zum Teil frei. Denn die Lichtverhältnisse waren für die fotografische Prozedur wegen der späten Jahreszeit und der Situation in einem Innenraum denkbar ungünstig. Noch im Verfahren des „photogenic drawing“ hervorgebracht, benötigte die Aufnahme eine Belichtungszeit von sicher 20 Minuten oder mehr, um auf dem wenig lichtempfindlichen Papier einen negativen Abdruck zu hinterlassen. Im Zuge der Reproduktion auf das raue Salzpapier werden bei der Ausarbeitung des Positivs weitere Details verloren gegangen sein. Aber eben diese ‘Mängel’ lassen wiederum ganz andere und unterschiedliche Möglichkeiten der Fotografie erkennen. Die Aufnahme vermag zum einen den besonderen Eindruck, den Bibliotheken vermitteln, gut wiederzugeben: die scheinbare Ordnung, die sich dem Alphabet, einer Inventarnummer, der Größe der Einbände oder dem Zufall verdankt. Das heißt, sie zeigt eine Reihung, deren Kriterien nicht erkennbar sind: Die bildlich vorgeführte Ordnung ist ausschließlich eine fotografische. Auch wenn diese sich nur dem Augenblick verdankt, in dem das Bild entstanden ist, erscheint sie umso unumstößlicher, je älter die Aufnahme ist.
Andererseits vermag das Medium ebenso – und wie hier gleichzeitig –, Dinge gewissermaßen in Schwebe zu halten. Die beiden Vasen und der Teller – sowie ein nicht zu identifizierendes rechteckiges Gebilde – befinden sich auf einem Tischchen oder einem Gestell, dessen Form aufgrund der Unschärfe nicht ausgemacht werden kann. Die geringe Tiefenschärfe tut ein Übriges, so dass die Dinge sich darstellen, als hingen sie in der Luft. Vor dem strengen Muster, das die Bücher bilden, kommt ein Unbestimmtes ins Bild, das die ornamentale Ordnung durchbricht. Doch auch dieser Anschein liegt im Fotografischen. ‘Ordnung’ und ‘Unordnung’ halten sich die Waage, zwei Gegebenheiten, von denen Földényi meint, die eine wie die andere ängstige den Melancholiker.
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Vgl. László F. Földényi, Melancholie [Melankólia, 1984], Aus dem Ungarischen von Nora Tahy,
durchgesehen von Gerd Bergfleth, München: Matthes & Seitz, 1988 (Batterien 35), S. 338-341.
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Charles Nègre: Äpfelverkäufer am Hafen beim Rathaus, 1851 Quelle
Quelle Charles Nègre: Äpfelverkäufer am Hafen beim Rathaus, 1851, 15,4 x 20,8 cm, Salzpapier-Abzug von einem Wachspapier-Negativ (aus: Françoise Heilbrun, Charles Nègre. 1820 – 1880. Das photographische Werk, München: Schirmer/Mosel, 1988, S. 117)
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Nichts geht über ein Bild hinaus. Nur Momentfotografien von bewegten Menschen und Dingen lassen glauben, der Fall, der Flug, das Drehen, Gehen und Fahren würden sich in gleicher Stetigkeit und Richtung fortsetzen. Das kann durchaus der Fall gewesen sein, aber ebenso könnte sich ein Hindernis, das auf dem Bild nicht zu sehen ist, dem Fortgang plötzlich entgegen gestellt, sich die Person woanders hingewendet, ein Sturz stattgefunden haben. Jede Bewegung endet, sobald sie fotografisch fixiert ist, wie überhaupt allem, was sich in einer Aufnahme niedergeschlagen hat, Einhalt geboten wurde. Die Erscheinungen sind der Zeit enthoben, es existieren nur noch die Momente des Betrachtens des Bildes. In ihm erblicken wir die Grabstätte der Wirklichkeit, die uns die Fotografie vorhält.
Alles, was auf Platte oder Film festgehalten wurde, ist sozusagen
am Ende. Es kennt keine Zukunft. Mit dem Auftritt im Bild ist das Sosein der Gegenstände in der Welt unwiederbringlich dahin. Ihrer Existenz kann man sich nur von ihrem Ende her nähern. Deshalb liebt der Melancholiker Fotografien, weil er überhaupt alles Geschehen und alle Geschichte von ihrem Ende her betrachtet. Im fotografischen Bild blickt der Melancholiker in eine Vergangenheit, vor der etwas gewesen sein wird.
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Denis Roche: „28 mai 1980“ Quelle
Quelle Denis Roche: „28 mai 1980“ (aus: Gilles Mora, Denis Roche. Les preuves du temps, Buch zur Ausstellung der Maison Européenne de la Photographie , Paris: Éditions du Seuil, 2001, S. 61)
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Man Ray: „Lee Miller’s eye“, 1932Quelle
Quelle Man Ray: „Lee Miller’s eye“, 1932, 7,9 x 10,5 cm (aus: Begierde im Blick. Surrealistische Photographie, Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2005, S. 95)
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Barbara Köppe: ohne Titel, 1989Quelle
Quelle Barbara Köppe: ohne Titel, 1989, 13 x 18 cm (Privatbesitz)
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Die „Abwesenheit der Verbindung zwischen Blickendem und Erblicktem ist ein weiterer Aspekt der melancholischen Erfahrung. Das melancholische Subjekt, dem die Zukunft genommen ist und das auf eine verwüstete Vergangenheit starrt, hat die größten Schwierigkeiten damit, einen Blick aufzunehmen und zu beantworten.“
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Jean Starobinski, „Der Blick der Statuen“, in: Entzauberte Zeit. Der melancholische Geist der Moderne, hrsg. von Ludger Heidbrink, München, Wien: Carl Hanser, 1997 (Edition Akzente), S. 77-100, hier S. 79.
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Der Befund von Jean Starobinski – ausgerichtet auf den Blick der Welt und dessen Erwiderung – trifft jedoch gleichermaßen auf jene Fotografen zu, die davon wissen, dass der fotografische Blick den menschlichen nicht erreichen, ja, ihm nicht einmal nahekommen kann. Das kalte Auge der Kamera vermag nicht mehr, als das Aussehen seines Gegenübers zu registrieren. Der Blick der Person, die durch den Sucher oder auf das Display schaut, trifft sich niemals mit jenem seines Modells.
Die Konfrontation des lebendigen Auges mit dem Objektiv umgehen manche Fotografen – ob mit Absicht oder nicht – und finden dafür ganz unterschiedliche Lösungen: Sie fokussieren auf ein Auge oder auf beide, die nun zu keinem Gesicht mehr gehören und ihre individuellen Züge verloren haben; sie lassen das Modell die Augen schließen; sie bringen Unschärfen ins Spiel, die als Schleier fungieren, oder operieren mit Doppelbelichtungen, mit denen jede Eindeutigkeit aufgehoben wird; der Blick der Porträtierten wird ‘gebrochen’, indem ihm ein Spiegel vorgehalten wird oder er in einen solchen blicken muss; oder in seinen Augen spiegelt sich ein Vis-à-vis. Solche Motive haben eine lange Tradition und sind schon in anderen Medien aufgekommen, bevor die Fotografie auf den Plan getreten ist. Sie künden immer auch von der Angst ihrer Autoren, etwas, das sich im Blickkontakt mit ihrem Gegenüber eröffnet hat – und es handelt sich sehr häufig um nahestehende Personen, die solcherart porträtiert werden –, bildlich aus den Augen zu verlieren. Sie sind befangen in der Unmöglichkeit, das Aufeinandertreffen der Blicke aufzuzeichnen – also bannen sie es durch Ausschluss.
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Lucien De Clercq: „Baalbeck [Héliopolis]. Vue d’ensemble des ruines. Syrie“, 1859 Quelle
Quelle Lucien De Clercq: „Baalbeck [Héliopolis]. Vue d’ensemble des ruines. Syrie“, 1859, Negativ (aus: Heiner Bastian [Hrsg.], Fragmente zur Melancholie. Bilder aus dem ersten Jahrhundert der Fotografie, Ausstellungskatalog Museum für Fotografie der Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Ostfildern: Hatje Cantz, 2006, S. 123)
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Die reisenden Lichtbildner der Mitte des 19. Jahrhunderts nehmen ein Motiv der Romantik auf. Viele von ihnen kommen aus Frankreich und dokumentieren im Orient, am Mittelmeer oder in ihrer Heimat die Relikte früherer Kulturen. Sie bewegen sich auf dem Terrain eines aufkommenden touristischen Interesses, das sich in den Reiseführern niederschlägt, wo die Stätten antiker Tempelreste und späterer Ausgrabungen verzeichnet werden.
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Vgl. Michel Makarius, Ruinen. Die gegenwärtige Vergangenheit [Ruines, 2004], Paris: Flammarion, 2004, „Ruinen und Fotografie“, S. 160-164.
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Der gestalterische Reiz für den Fotografen liegt auch darin, dass die verfallenen Bauwerke keine Perspektiven vorschreiben. Ihren Funktionen enthoben, lassen sie vielfach nicht einmal mehr erkennen, von wo aus sie vor ihrer Zerstörung begangen werden konnten, wie die Gebäudeteile ineinandergegriffen, welche Ausmaße sie besessen haben. Man will es auch gar nicht wissen, was sich unter anderem darin ausdrückt, dass in den Bildlegenden nur selten die Epoche angegeben ist, wann sie errichtet worden sind. Beispielsweise vermerkt Maxime Du Camp auf seiner Orientreise von 1849/50 zu jedem Bild Ort und Tag der Aufnahme, aber nur zu den Totentempeln und Grabstätten, welchem Herrscher sie zugedacht worden waren.
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Vgl. Die Reise zum Nil. 1849–1850. Maxime Du Camp und Gustave Flaubert in Ägypten, Palästina und Syrien, hrsg. von Bodo von Dewitz und Karin Schuller-Procopovici, Ausstellungskatalog Museum Ludwig/Agfa Photo-Historama, Göttingen: Steidl, 1997, S. 61-207.
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Der Fotograf sieht die Ruine als ein Werk der Gegenwart, verzichtet auf die Darlegung früherer Gegebenheiten und Zusammenhänge und liefert damit Bilder für jeglichen Gebrauch.
Nun können die Betrachter das Bauwerk gedanklich nach Belieben ‘vollenden’, baugeschichtliche Kenntnisse sind nicht vonnöten. Ohne Rücksicht auf tatsächliche frühere Zustände kann gewissermaßen ein Wiederaufbau nach rückwärts stattfinden. Es geht nicht um den Status von ehedem, nicht um Rekonstruktion, sondern um einen neuen Entwurf, um eine individuelle Vision. Vor dem Bild der Ruine wird jeder zum Architekten, der aus den Fragmenten der Vergangenheit ein Gefüge der Gegenwart konstruiert.
Die Ruinen sind in den Jahren um 1850 nicht nur Ziele von Fotografen und Touristen, sondern die fotografischen Aufzeichnungen liegen bald überall im Kunsthandel auf. Mit der Zunahme der Bildproduktion sinkt nach und nach das Interesse des Publikums und in der Folge jenes der Hersteller: Maler, Zeichner und Fotografen wenden sich anderen Objekten in den bereisten Gebieten zu. Die große Zahl der Reproduktionen hat den Gegenstand aus dem Blickfeld gedrängt. Es war naheliegend: Jenes Medium, das ständig Ansichten von Gewesenem hervorbringt, wird zum Totengräber der Ruinenbilder – und tritt an deren Stelle. Kennt die Fotografie doch keine anderen Bilder als solche einer vergangenen Welt.
6.4.2010
© Timm Starl 2009
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