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„[...] daß die hoch regulierten Mitglieder späterer Gesellschaften [...]
unfähig sind, die Mitglieder früherer Gesellschaften
mit geringeren Zeitbestimmungsbedürfnissen zu verstehen [...]“
(Norbert Elias, 1988) 1

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hat man noch Zeit. Zwar beginnen mit expandierender Industrialisierung die Maschinen, den Takt anzugeben, doch sind vornehmlich jene betroffen, deren Arbeit sich unmittelbar danach zu richten hat. Auch der Transport von Personen und Waren geht mit Eisenbahn und Dampfschiff schneller vonstatten als mit Fuhrwerken, doch profitieren davon nur jene Bürger, die sich solche Fahrten leisten können, und die meisten Passagiere bestehen aus „Leuten, die in Geschäften reisten“, wie Friedrich Wilhelm Hackländer anlässlich einer Tour nach Paris 1844 feststellt. 2 Die zunehmende Beschleunigung des Nachrichtenflusses beispielsweise durch telegrafische Übermittlung berührt die Zeitungsleute und den Spekulanten, vor allem aber das Militär. Die für den Einzelnen maßgebenden Zeitfaktoren sind je nach Schicht und Beruf, nach Wohnsitz in der Metropole oder in der Kleinstadt recht unterschiedlich. Sieht man von Bauern, deren Tätigkeiten von Mechanisierungen wenig betroffen sind, und Arbeitern ab, vermitteln die Errungenschaften des Fortschritts den Menschen – zumal doch Maschinen Arbeiten ersparen oder erleichtern – die Vorstellung, über mehr Zeit zu verfügen als vor Einführung der Neuerungen.

Andererseits irritieren die erhöhten Geschwindigkeiten, und manch einer verzichtet auf die Vorteile und beharrt auf einem Dasein in biedermeierlicher Gemütlichkeit. Wenn der junge Jacob Burckhardt im März 1840 anführt: „[...] so setzt man sich auf die Eisenbahn und rutscht in 33 oder 35 Minuten nach dem fünf Stunden entfernten Potsdam [...]“ 3 , dann nimmt er als Maß der Entfernung den Reiseaufwand mit der Kutsche, um die Zeitdifferenz auszudrücken, was dann wie ein Distanzgewinn anmutet. Einer einheitlichen Zeitvorstellung stehen nicht zuletzt die Fahrpläne der Eisenbahngesellschaften entgegen, die noch keine Normalzeit kennen, sondern vielfach nach der Ortszeit der größten angefahrenen Stadt ausgerichtet sind. So differiert in vielen Orten die Uhr auf dem Bahnhof mit jenen auf dem Rathaus und der Kirche.

Aber nicht nur den Reisenden mögen die Unterschiede irritieren, auch der urbane Zeitgenosse erlebt täglich, dass nicht alle Uhren der Stadt dieselbe Zeit anzeigen. Zudem sind vor der Jahrhundertmitte nicht allzu viele Uhren an öffentlichen Plätzen aufgestellt, und lediglich betuchte Mitbürger verfügen über einen eigenen Zeitmesser. Ohne eine Information über die aktuelle Zeit entfällt jenes Element, das ständig zur Eile mahnt. Man kann sich Zeit lassen. Dass in Paris dazumal die Passagen aufkommen, in denen keine Fahrzeuge verkehren dürfen und die Fußgeher das Tempo bestimmen, mag auch darauf gerichtet sein, der Langsamkeit einen Platz in der französischen Kapitale zu verschaffen.

Noch ist die Sekunde keine Kategorie, die für das allgemeine Zeitgefühl bestimmend wäre. Ohnehin verfügen die wenigsten Uhren über eine entsprechende Anzeige. Wenn Adalbert Stifter am 8. Juli 1842 eine Sonnenfinsternis beobachtet und ihr Einsetzen „in vorausgesagter Minute“ konstatiert, 4 so charakterisiert dies den Spielraum, der einem Augenblick eingeräumt wird. Für die meisten Menschen, insbesondere auch für den Mittelstand, der noch nicht über Taschenuhren verfügt, bedeutet die Sekunde im Alltag keine relevante Größe, wie auch die Daguerreotypie nur einem kleinen Kreis der Bevölkerung zugänglich ist und daher auch nicht ins Gewicht fällt, dass der fotografische Moment bereits ab Anfang 1841 in Sekunden gemessen wird.

Belichtungszeiten für Daguerreotypie 1838 bis 1841 5
Jahr Monat Ort Motiv Autor Min. Sek.
pix
1838 April/Mai Paris Straße Daguerre 10-12  
1839 November Alexandria Landschaft? Horace Vernet 2 30
1840 April Paris Porträt Abel Rendu 1-2 27
  Mai Wien Porträt Anton Martin 1 15
  September Wien Porträt Franz Kratochwila 1  
  Oktober New York Porträt Alexander Wolcott 5  
  Dezember New York Skulptur John Goddard 3-4  
1841 Januar und davor Wien Porträt Joseph Schultner   40-150
  Februar Wien Porträt Brüder Natterer   5-10
  Mai London Porträt Antoine Claudet   5-15
  Oktober München Porträt Carl Reisser   3-10

Eine solch kurze Zeitspanne erscheint den meisten noch dermaßen unvorstellbar, dass sie nicht mit dem Zeitmaß quantifiziert, sondern abstrakten Begriffen gleichgesetzt wird. „Das Wunder ereignet sich augenblicklich, schnell wie der Gedanke, rasch wie der Sonnenstrahl [...]“, vermerkt Jules Janin zur Anfertigung einer Daguerreotypie, obwohl diese Anfang 1839 zumindest 10 Minuten in Anspruch genommen hat. Ihm ist es in seiner Darstellung vor allem auch um den Abstand zu dem Aufwand gegangen, der für eine Zeichnung von vergleichbarer Genauigkeit benötigt würde. Es sei nämlich „nicht mehr nöthig, an Einem Orte drei Tage zuzubringen, um kaum einen entstellten Schattenriß davon zu bekommen.“ 6 Seine kontrastiven Größen für die Schnelligkeit der Belichtung korrespondieren mit der gängigen Beschreibung der Geschwindigkeit der neuen Verkehrsmittel: „[...] um mit der Eisenbahn wieder den pfeilschnellen Heimflug anzutreten“, heißt es zum Ende eines Ausfluges von Wien nach Südmähren. 7

Beide Vergleiche operieren mit Erscheinungen, die außerhalb des menschlichen Wahrnehmungsvermögens liegen: Dem Sonnenstrahl vermag der Blick ebenso wenig zu folgen wie dem abgeschossenen Pfeil. Bei einer Fahrt mit der Eisenbahn wird diese Erfahrung gemacht, wenn mit zunehmender Geschwindigkeit die nahe der Strecke befindlichen Einzelheiten nicht mehr identifiziert werden können oder nur mehr schemenhaft erkennbar sind: „[...] so wie man sich danach umsehen will, sind sie schon lange vorbei.“ 8 Wogegen beim fotografischen Akt das Entstehen des Lichtbildes im Dunkeln liegt, d.h. nicht sichtbar ist und daher die Geschwindigkeit in Relation zu einem anderen, langsameren Medium aufgefasst wird. Zugleich sind bereits jene Belichtungszeiten von einer Sekunde und darunter vorweg genommen, die wesentlich die Konstitution des Fotografischen ausmachen und „jenseits der natürlichen Zeitgrenze liegen, innerhalb deren [...] Wahrnehmungsgestalten erfaßt werden können.“ 9 Erst die Schärfe der Darstellung und die zugrunde liegende Kürze der Belichtungszeit gewährleisten, dass das Bild als Äquivalent des Realen angesehen wird.

Die Vorstellungen von Fotografie erwachsen jedoch nicht aus dem Wissen um die Dauer der Belichtung, die nur einen verschwindend geringen Teil der Prozeduren beim Porträtieren ausmacht. Wenn jemand das Atelier eines Daguerreotypisten oder wenig später eines Fotografen aufsucht – und dort findet für die meisten die Begegnung mit dem neuen Medium statt –, kann es geschehen, dass man nicht sofort bedient werden kann. Dann nimmt die Kundschaft im Foyer oder einem eigenen Warteraum Platz, wo Bilder oder Musteralben aufliegen, nach denen man Vorbilder wählen und sich anregen lassen kann. Schließlich muss unter Umständen das Gesicht gepudert werden, damit es nicht glänzt und keine Lichtreflexe in die Aufnahme eingehen können. Man setzt sich zurecht, richtet die Kleidung, der Lichtbildner nimmt möglicherweise noch Korrekturen vor oder macht Vorschläge zur Haltung, zum Hintergrund und den Requisiten, die auf der Aufnahme erscheinen sollen. Ein Besuch in einem Atelier der 1840er Jahre kann ohne weiteres eine Stunde in Anspruch nehmen, insbesondere wenn die ganze Familie antritt und ein Gruppenbild gewünscht ist.

Wollte man die Aushändigung einer eingefassten Daguerreotypie oder auf Karton kaschierter Abzüge abwarten, so dauern die notwendigen Prozeduren sicherlich eine weitere halbe Stunde, auch wenn Philibert Perraud um 1850 auf seinem Etikett eine erheblich kürzere Wartezeit verspricht: „[...] quelques secondes de pose et dix minutes pour emporter son portrait tout encadré“. 10 Für jeden, der sich ein Bildnis hat anfertigen lässt, ist offensichtlich gewesen, dass die Belichtungsdauer gegenüber den vorausgehenden und nachfolgenden Manipulationszeiten im Atelier nicht ins Gewicht fällt, oder anders ausgedrückt: sie musste ungemein kurz erscheinen.

Der fotografische Prozess ist typisch für diese Phase der Industriellen Revolution, in der noch handwerkliche und mechanische Leistungen unvermittelt nebeneinander stehen beziehungsweise aufeinander folgen. Der Daguerreotypist erledigt die meisten Handgriffe im Atelier und in der Dunkelkammer selbst, die einzige Apparatur ist die Kamera, industrialisiert wird bereits früh die Herstellung der Platten und der Präsentationsmaterialien. 20 Jahre später arbeiten für den professionellen Fotografen ein Operateur und Kopistinnen sowie gegebenenfalls ein Retuscheur und eine Empfangsdame. Ab den 1880er Jahren beginnen Vergrößerungsanstalten, die Ausarbeitung nicht nur für die Amateure, sondern auch für kleinere Atelierbetriebe zu übernehmen.

Die Verschränkung manueller und maschineller Fertigungsmethoden und die davon beeinflussten Zeitelemente finden ihren Ausdruck auch in der phantastischen Literatur. Insbesondere in der Science-Fiction, die mit den technischen Innovationen im 19. Jahrhundert aufkommt, sind utopische Momente enthalten, die dem Fortschrittsoptimismus der Zeit erwachsen. Zugleich sind die Handlungen in einer fernen, unbestimmten Zeit situiert, die auch auf eine Gegenwart mit unsicherem Zeitgefühl zurückzuführen ist, der man mit der Lektüre zu entfliehen vermag. Autoren wie E.T.A Hoffmann und Edgar Allen Poe verlegen ihre phantastischen Geschichten in die Vergangenheit, wie beispielsweise letzterer in The Pit and the Pendulum von 1843, was während der Inquisition in Spanien spielt. Die Folter, die der gefesselte Held erfährt, besteht aus einer hin und her schwingenden Stahlklinge: „Zoll um Zoll – Strich um Strich – so langsam, dass es nur in Abständen merklich war [...], senkte es sich tiefer [...] und immer tiefer!“ 11 – wie das Pendel einer Uhr im Sekundenrhythmus die verschwindende Zeit androhen würde.

Die stereotype Behauptung einer extrem langen Belichtungszeit, um in der Frühzeit des Mediums ein Negativ auf Platte oder Papier hervorzurufen, beginnt erst ab den 1880er Jahren um sich zu greifen. Diese Einschätzung fällt nicht zufällig in das Jahrzehnt, in dem die Momentfotografie mit dem Gelatineverfahren und kleinformatigen Kameras an Boden gewinnt, der Schnappschuss auch für Amateure möglich wird und Ottomar Anschütz einen Schlitzverschluss konstruiert, der mit 1/1200 Sekunde operiert. Gegen Ende des Jahrhunderts hat sich ein anderer Zeitbegriff etabliert: Mit der Installierung des Telefons und der Steigerung des Telegrammverkehrs werden gleichermaßen Raum vernichtet und Zeit gewonnen wie mit dem Bau von Straßen-, Hoch- und Untergrundbahnen; die Elektrifizierung über eine zentrale Stromversorgung, die Einführung von Glühbirne und Bogenlampe machen die Nacht zum Tage. Die Chronofotografie eines Eadweard Muybridge und Etienne Jules Marey, die Kompositfotografie von Francis Galton, der Schnellseher von Ottomar Anschütz lassen die einzelne Aufnahme in Sequenzen oder Überblendungen aufgehen. Und in Europa und den USA werden Anstrengungen zur Synchronisation der Zeit unternommen, die sich dann nach Greenwich richten wird 12 – erst damit kann sich die Vorstellung verbinden, die Zeit zu beherrschen. In dieser Phase des 19. Jahrhunderts erfährt die Fotografie erstmals eine umfangreiche historiografische Aufarbeitung, angefangen mit der von Josef Maria Eder 1881 begonnenen Geschichte des Mediums. 13

Die Rückprojektion, also die Zeit der Belichtung in der Frühzeit nach den aktuellen Möglichkeiten zu werten, hält sich hartnäckig bis ins 21. Jahrhundert und erfährt in sämtlichen Fotogeschichten eine kritiklose Wiederholung. In dieser Beharrlichkeit manifestiert sich nicht zuletzt der Traum von der Gleichzeitigkeit realer Vorgänge und ihrer Bildwerdung, wie sie in den Selbstbildautomaten und dem Polaroid angelegt ist und die mit der digitalen Aufzeichnung und der Live-Übertragung des Fernsehens ihren vorläufigen Endpunkt erreicht hat. Auch in Zukunft wird wohl der analogen Fotografie nach wie vor nicht zugestanden werden beziehungsweise unerwähnt bleiben, dass zwischen dem Einfall des Lichts auf die empfindliche Schicht und dem ausformulierten Negativ ein Zeitraum liegt, in dem chemische Veränderungen stattfinden, „es das Bild ist, das sich selbst macht .“ 14 In denselben Argumentationsstrang fällt, dass Talbots Experiment mit rotierenden Scheiben, bei denen er mittels elektrischer Entladung einer Batterie eine Zeitungsseite mit 1/100.000 Sekunde aufnehmen konnte, keinerlei Bedeutung zugemessen, sondern bestenfalls nebenbei erwähnt wird und den Status einer Kuriosität erhält.

Im übrigen haben längere Belichtungszeiten sowohl den Zeitgenossen wie den späteren Rezipienten manch unvergleichliche Einblicke eröffnet. Wäre Daguerres Aufnahme des Boulevard du Temple von 1838 in weniger als einer Sekunde entstanden, hätte sie nicht mehr als eine vertraute Ansicht geliefert. 15 So aber haben sich in den etwa 10 bis 12 Minuten die Fahrzeuge und Passanten gleichsam aus dem Bild bewegt, und nur der Schuhputzer und sein Kunde, die sich ruhig verhalten haben, sind übrig geblieben. Sie wären in der Menge ebenso wenig aufgefallen wie die Mauerrisse und zerbrochenen Dachziegel, nach denen die ersten Betrachter gefahndet haben, als sie eine Lupe zur Hand nahmen. Ein poetisches Moment ist dergestalt in die Szene eingegangen, wobei es eines besonders ‘langen Moments' bedurft hat, um sie in dieser Form zur Darstellung zu bringen.

24.6./ 11.9.2008

© Timm Starl 2008

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