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Sofern Zeichnungen und andere grafische Hervorbringungen mit einem Passepartout ausgestattet werden, so umfasst dieses sorgsam das Werk und berührt beziehungsweise überdeckt es an keiner Stelle. Die Umrandung nimmt die Rahmung vorweg, lässt jedoch dem medialen Mittel wie der besonderen Kreation ihre Eigenarten. Anders verhält es sich bei fotografischen Produkten, weil sich das Passepartout in gewisser Weise vor das Bild stellt und es kleiner macht: Teile der Daguerreotypie oder Fotografie werden verdeckt, die Bilder erhalten eine scharfe Begrenzung und ein anderes Format. Das Passepartout wiederum muss sich gleichfalls anpassen und nimmt die Maße der Vertiefung an, die ihm der Rahmen überlässt. So dient es auch als Schutz, damit das Glas nicht direkt auf der fotografischen Schicht zu liegen kommt. Zudem bietet es Platz für die Signatur, eine Datierung, einen Titel, die Identifizierung des Motivs. Oftmals sind Zierlinien um den Bildausschnitt gezogen, der nun nicht mehr einer der Linse ist und sich vom Negativ unterscheidet. Das Passepartout schafft Distanz zwischen Bild und Betrachter, dem der vollständige Anblick des Originals entzogen wird. Mit der Abstinenz von Teilen des ursprünglichen Bildumfanges verstärken sich die abstrakten Momente.

Pierre-Louis Pierson: La Comtesse de Castiglione, 1861/67 Pierre-Louis Pierson: La Comtesse de Castiglione, 1861/67 Quelle

Hinter dem Passepartout verbirgt sich die Comtesse Castiglione, aufgenommen von Pierre-Louis Pierson in Paris zwischen 1861 und 1867. Geboren 1837 in Florenz als Virginia Oldoini, Tochter eines Marquis aus alter Familie, verheiratet sie sich 1854 mit François Verasis, dem Grafen Castiglione. Ende 1855 kommt das Paar nach Paris, um eine Kusine von Virginie zu besuchen. Kaum drei Wochen später wird sie Napoleon III. vorgestellt und avanciert bald zu seiner Geliebten. In der Folge führt die Comtesse einen geselligen Salon in der französischen Hauptstadt, gilt als schöne und elegante Frau und pflegt Liaisons mit diversen hochrangigen Figuren der Aristokratie und des Geldadels. Für manche, wie den Grafen Cavour, übernimmt sie geheime diplomatische Missionen.

Sie lässt sich gerne und oft fotografieren, besucht diverse Ateliers, am liebsten aber jenes von Pierson, dem sie in vielerlei, auch gewagten Posen Modell steht.1 Die Aufnahme gehört seit längerem zu meinen bevorzugten Ansichten des 19. Jahrhunderts, weil sie in seltener Vielschichtigkeit auf die medialen Komponenten der Fotografie und die kulturellen Ausformungen dieser Epoche Bezug nimmt.

Auch für die damalige Zeit handelt es sich um eine ungewöhnliche Inszenierung, wenn die Comtesse ein mit Velours bezogenes Passepartout, das als Aufstellrahmen konzipiert ist, vor sich hält und mit einem Auge durch die ovale Öffnung blickt. Doch die Pose kommt nicht von ungefähr, ihr Vorbild findet sich im 18. Jahrhundert, als galante Frauen mit dem Fächer ihr Gesicht teilten und einen koketten Blick auf ihr männliches Gegenüber warfen. Dagegen hatte eine ehrbare Frau den Blick zu senken und auf den Boden zu schauen, sobald sich ein Mann näherte. Die Comtesse spielt also diese Rolle, oder richtiger: sie spielt mit ihr, zeigt nur wenig von ihrem Gesicht, keinesfalls genug, um die Schönheit, die ihr nachgerühmt wurde, erkennen zu lassen. Vielmehr präsentiert sie eine nackte Schulter und den unbedeckten rechten Unterarm sowie eine kleine Partie der linken Hand. Den Körper stellt sie – jedenfalls andeutungsweise – zur Schau, nicht aber sich selbst, ihre Physiognomie. Damit bietet sie sich einerseits dem voyeuristischen Blick an, wie sie sich auf der anderen Seite dessen erotischer Einvernahme entzieht. Nacktheit, die kein Gesicht hat, wirkt bekanntermaßen steril, und geriert sich als eine Ware, die zwar visuell konsumiert werden kann, aber keine Befriedigung zulässt.

Der Rahmen unterstützt ebenso die Verlockung wie die Zurückweisung. Eigentlich dazu gedacht, einer künstlerischen Schöpfung zusätzlich Aufmerksamkeit zu verschaffen, dient er hier dazu, etwas zu verbergen. Statt den Blick auf das zu lenken, was sich sich innerhalb seines ovalen Ausschnitts erkennen lässt, weist er diesen mit aller Entschiedenheit zurück. Vielmehr steht der Voyeur selbst im Blickfeld der Comtesse Castiglione, die in dieser Umkehrung auf die Schaulust ihrer Zeit abhebt. Das Modell des Fotografen entzieht sich der Objekthaftigkeit und entlarvt den Betrachter, indem dieser auf die Beschränktheit, die Eindimensionalität seines Schauens verwiesen wird.

Der Rahmen bestärkt immer auch die Begrenzungen auf den Ausschnitt, der dem fotografischen Bild sein besonderes Gepräge verschafft, weil das Vorbild ein reales und die Frage ständig virulent ist, was sich neben der gewählten Ansicht des Abzuges befunden hat. Bei dem hier getroffenen Arrangement tritt der Fall ein, dass zu sehen ist, was sich außerhalb des Rahmens befindet, und dadurch wird der Betrachter erst recht dazu animiert, die fehlenden Gesichtszüge in seiner Phantasie zu vervollständigen. Doch dies wird ihm nicht einmal dann, wenn er andere Porträts der Comtesse kennt, vollständig gelingen. Dies mag u.a. den Reiz dieser Aufnahme ausgemacht haben, in der das Bekannte als Unbekanntes auftritt, wie bei einer Veranstaltung mit maskierten Teilnehmern, wenn sich dieser oder jene ergötzt im Flirt mit der oder dem bekannten Unbekannten, im zweifelnden Erkennen, in der Ungewissheit, ob man selbst nicht von seinem Gegenüber längst durchschaut worden ist. Ohnehin gehörte die Maskerade in den 1860er Jahren zu den beliebten Formen der Unterhaltung wie die gängige Spekulation in der Welt der Geschäfte: Maske wie Aktie verraten nicht, mit wem man es tatsächlich zu tun hat. 2

Der Fähigkeit des Fotografischen, etwas in aller Deutlichkeit zu zeigen, ist zugleich eingeschrieben, ein anderes vollkommen zu verbergen. Die Fotografie erreicht nicht mehr als die Oberfläche der Objekte. Zwar weist das fotografische Bild immer über sich hinaus, aber seine Winke sind unbestimmt und die Richtung nicht zu erkennen. Die begrenzte Sicht ist die Norm und das Maß des Mediums, mit denen der Wirklichkeit begegnet wird – aber die Wirklichkeit entzieht sich kategorisch dieser „Anmaßung“. Denn die Elle, mit der gemessen wird, muß derselben Welt entstammen wie jene, an der Maß genommen wird.

Nicht zuletzt stehen wir hier vor dem Porträt einer selbstbewußten Frau, die – könnte man sagen – den Spieß umdreht. Jeder wusste um den Lebenswandel der Comtesse, und sie stellte sich allen Neugierigen fotografisch zur Verfügung. Wer aber diese Aufnahme erwarb, hatte sich einen Spiegel gekauft, in dem sich die kleinlichen Begierden auftaten und die doppelte Moral des bürgerlichen Zeitgenossen, den seine lüsternen Blicke verraten, sobald er seiner Familie den Rücken kehrt. Bei einer solchen Aufnahme gehen sie allerdings ins Leere und fallen gleichsam auf ihn zurück. Die Sehlust des 19. Jahrhunderts hat immer auch ihre ebenso obszöne wie ökonomistische Seite, indem etwas besessen werden möchte, ohne sich etwas vergeben zu wollen.

Pierre-Louis Pierson: La Comtesse de Castiglione, 1856/57 Yigal Ozeri: „Doll II“, aus der Serie „The Countess of Castiglione“, 2001
Pierre-Louis Pierson: La Comtesse de Castiglione, 1856/57 Quelle Yigal Ozeri: „Doll II“, aus der Serie „The Countess of Castiglione“, 2001 Quelle

Die Comtesse, 1899 gestorben, hat ein bewegtes Nachleben. Sie wird Gegenstand literarischer Texte wie historischer Rückblicke, avanciert zur Heldin mehrerer Theaterstücke und Filme. 100 Jahre nach ihrem Tod findet eine Ausstellung mit ihren Porträts statt. Darunter befinden sich auch mehrere, die sie selbst koloriert hat. Insbesondere ihrer aufwendigen Toilette – den langen Roben, den historischen Kostümen – hat sie Farbe gegeben. Das Gesicht ist von ihr nicht überarbeitet worden. Ein junger Künstler, Yigal Ozeri,3 kann den Blicken nicht standhalten: Er übermalt Kopf und ganze Figur und lässt keine Öffnung, die dem Betrachter eine erotische Zugangsweise erlaubte. 4

Seine Befriedigung findet er, indem er den Pinsel an ihre Selbstinszenierungen legt und sie uns zur Gänze vorenthält. Er macht die Fotografie unkenntlich, verwehrt das ungezügelte wie träumerische Schauen. Die Frau wird in jene Gefilde entrückt, wo sie unsere Phantasie nicht mehr erreicht. Und auch wir sind nicht mehr ihren Blicken ausgesetzt, die unsere Neugier entlarven.

8.3.2010

© Timm Starl 2010

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