"La fenêtre s'ouvre comme une orange
Le beau fruit de la lumière."
[Das Fenster öffnet sich wie eine Orange
Die schöne Frucht des Lichts.]
(Guillaume Apollinaire, 1913?)
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Guillaume Apollinaire, "Les fenêtres" [1913?], Deutsch von Gerd Henniger, zit. nach: Werner Hofmann, "Zu einem Bild Delaunays" [1954], in: ders., Bruchlinien. Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München: Prestel, 1979, S. 95-110, hier S. 101-102.
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"Photos sind keine Fenster [...]"
(Susan Sontag, 1987)
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Photos sind keine Fenster, die einen durchlässigen Blick auf die Welt bieten, wie sie ist, oder genauer, wie sie war." Susan Sontag, "Hundert Jahre italienische Photographie" [1987], in: Susan dies., Worauf es ankommt. Essays, Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag, 2007, S. 284-292, hier S. 289.
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"Wären die Fenster der Wahrnehmung geputzt,
würde man alles so sehen, wie es ist: unendlich."
(Peter Henisch, 2001)
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Peter Henisch, "Das Fenster" [2001], in: Kleine Fibel des Alltags. Ein österreichisches Lesebuch, Wien: Hauptverband des österreichischen Buchhandels, 2002, S. 33.
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In der Arbeit "One and three windows" von 1965 stellt Joseph Kosuth das Fenster in all den Zeichen vor, die es bedeuten. Dem originalen Stück aus Holz und Glas folgt dessen fotografische Reproduktion in gleicher Größe auf Karton und dieser die lexikalische Definition als Texttafel. Die nebeneinander gesetzten Objekte beenden jedes für sich die Feststellung: "Ein Fenster ist ..."
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Siehe Abbildungen sowie den Kommentar von Manfred Schmalriede in: Rolf H. Krauss, Manfred Schmalriede, Michael Schwarz, Kunst mit Photographie. Die Sammlung Rolf H. Krauss, Ausstellungskatalog, o.O. [Berlin]: Frölich & Kaufmann, 1983, S. 86 f.
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Der Künstler greift das Fenster als Gegenstand für eine Analyse auf, die es auf seinen Begriff bringt beziehungsweise diesen anschaulich macht. Er hätte auch an irgendeinem anderen Ding sein Anliegen vortragen können. Dass Kosuth einer gemalten Wiedergabe die fotografische vorgezogen hat, ist vielleicht der aufkommenden Popularität des Mediums innerhalb der Concept Art zu verdanken. Davon unabhängig hat das Fenster als Objekt eine lange Tradition innerhalb der Künste, und zwar gleichermaßen der bildenden, der literarischen und der fotografischen. Dies gilt insbesondere ab dem 19. Jahrhundert,
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Vgl. Werner Hofmann, "Zu einem Bild Delaunays" [1954], in: ders., Bruchlinien. Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München: Prestel, 1979, S. 95-110. Mit Hinweis auf Arbeiten von Caspar David Friedrich, Stéphane Mallarmé und Edvard Munch geht es Hofmann um den "Nachweis [...], daß dem 'Fenster' bereits in der Malerei und Dichtung des 19. Jahrhunderts ein deutlich ausgeprägter Symbolwert zukommt." (S. 109).
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was sich dem Aufkommen neuer Sichtweisen und medialer Mittel verdankt. Mit seiner zweifachen Fähigkeit der Transparenz wie der Abgrenzung gibt das Fenster ein ideales Modell ab, um die Entschiedenheit (das Pathos) und die Fragilität (die Wandelbarkeit) von Begrifflichkeiten zu demonstrieren.
Für "La Bagame d'Austerlitz" von 1921 hat Marcel Duchamp gleichfalls ein originales Fenster verwendet und auf einen Sockel gesetzt. Eine Seite ist mit Mauerziegeln in Backsteinmanier eingesäumt, die andere mit einer Holztäfelung versehen. Die Scheiben sind mit heller Ölfarbe bestrichen und mit Schleifen in Form von Fragezeichen versehen. Die Kunst der überkommenen Malerei verstelle den Blick auf das Jetzt, und erst wenn sie entfernt würde, eröffneten sich Durchblicke. Verhindert wird der Blick auf die Außenwelt wie auch die Reflexion auf den Betrachter - die Bemalung verhindert Durchsicht wie Spiegelung.
Duchamp verwendet das Fenster - wie auch in mehreren Werken das Glas - ebenso metaphorisch für das Außen und Innen als die beiden Seiten der Wahrnehmung wie René Magritte in einer Reihe von Kompositionen. "La Condition humaine" von 1933 erläutert der Künstler 1940 wie folgt: "Vor ein Fenster, das vom Innenraum eines Zimmers aus gesehen wird, stellte ich ein Bild, das genau den Teil der Landschaft darstellte, der von diesem Bild verborgen wurde. Der auf dem Bild dargestellte Baum versteckte also den Baum hinter ihm, außerhalb des Zimmers. Er befand sich für den Betrachter gleichzeitig innerhalb des Zimmers auf dem Bild und gleichzeitig außerhalb, durch das Denken, in der wirklichen Landschaft. So sehen wir die Welt. Wir sehen sie außerhalb unserer selbst und haben doch nur eine Darstellung von ihr in uns."
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René Magritte, "Die Lebenslinie (II)" [1940], in: ders., Sämtliche Schriften, hrsg. von André Blavier, Aus dem Französischen von Christiane Müller und Ralf Schiebler, München, Wien: Carl Hanser, 1981, S. 105-110, hier S. 108.
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In "L'Éloge de la Dialectique" von 1937 wandelt Magritte das Thema ab: In einem Fenster, das von außerhalb des Hauses gesehen wird, zeigt sich die Front des gegenüber liegenden Hauses. "[S]o als befände sich das Außen im Innern des Zimmers", wie Alain Robbe-Grillet dazu den Ich-Erzähler in dem
Roman mit 77 Bildern von René Magritte bemerken lässt. Das "Lob der Dialektik" bedient sich dabei eines fotografischen Moments, indem das geöffnete Fenster im Vordergrund mit gleicher Schärfe verzeichnet ist wie die 'dahinter' liegende Häuserfassade. Und auch der Schriftsteller unterwirft seinen Text der fotografischen Konstitution, wenn er einen Spiegel in die Situation einführt, der "das bläuliche Bild des gegenüberliegenden Hauses zurück" wirft.
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Joachim Schmid, "Zur Theorie der Fotografie", in: Fotokritik 19, August 1986, Bl. 3-15.
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Denn wird die Kamera zwischen zwei Motiven postiert, vermag sie nur mittels eines Spiegels in einer Aufnahme festzuhalten, was sich vor dem Objektiv und hinter dem Apparat befindet.
Den nämlichen Fragen, die sich Künstler unter Verwendung des Fenstermodells gestellt haben, sind Fotografen - beginnend mit den ersten Experimenten - nachgegangen. Das Fenster diente ebenso als Mittel wie als Objekt, nicht nur um die technischen und ästhetischen Potentiale des Mediums zu erkunden, sondern auch dem Wesen der fotografischen Sichtung nachzugehen. Dass die Fragestellungen sich zumeist nicht als solche hervortun und die Bildentwürfe von den späteren Interpreten gewöhnlich bloß unter gestalterischen Gesichtspunkten betrachtet werden, bedeutet nicht, dass sie für die Bildautoren nicht relevant gewesen wären. Das gilt insbesondere auch für die Arbeiten von William Henry Fox Talbot, selbst wenn seine Kommentare sich anderen Problemen widmen oder er auf solche verzichtet. Indem sich die Kunst-, Foto- und Medientheoretiker der letzten Jahrzehnte vornehmlich auf schriftliche Zeugnisse stützen, wurde das Bildschaffen weitgehend aus dem Diskurs zur Theorie der Fotografie ausgeschlossen.
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So kommt Wolfgang Kemps Theorie der Fotografie I. 1839 - 1912, München: Schirmer/Mosel, 1980 vollkommen ohne Illustrationen aus. Auch die Bände 2 und 3 enthalten jeweils nur 11 Abbildungen bei 50 beziehungsweise 43 Textbeiträgen.
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Den Pionieren verschafft das Fensterbrett zunächst eine Art Brüstung, über die hinweg sie ihre Apparaturen ausrichten. Die Fensteröffnung scheidet die Außenwelt von den Vorrichtungen, die ihre aktuelle Ansicht aufzeichnen sollen. Im Innenraum sind die Protagonisten frei von Störungen durch Fremde oder von Einflüssen durch Wind und Wetter. Die Kamera befindet sich im Schatten des Öffentlichen, um dessen Bild habhaft werden zu können. Joseph Nicéphore Niépce gelingen 1816 die ersten Aufnahmen vom Fenster seines Arbeitszimmers in Le Gras aus. Die Abzüge auf Papier, womit er seine Versuche anstellt, haben sich nicht erhalten, weil der Erfinder den Niederschlag noch nicht zu fixieren wusste. Doch er hat das Motiv in einem Brief an seinen Bruder beschrieben, vor allem auch weil die negativen und seitenverkehrten Darstellungen der Erläuterung bedurften. "Die Voliere ist verkehrt herum abgebildet, die Scheune liegt auf der linken anstatt auf der rechten Seite. Die weiße Masse, die rechts neben der Voliere oberhalb des Gitterzauns erscheint [...] ist die weiße Butterbirne, die sehr viel weiter entfernt steht. Und dieser schwarze Fleck in Höhe des Wipfels ist eine lichte Stelle zwischen den Zweigen. Jener schwarze Schatten rechts zeigt den Backofen [...]"
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J. N. Niépce, Schreiben an Claude Niépce vom 28. Mai 1816, in: Nicéphore Niépce, Der Blick aus dem Fenster. Gesammelte Briefe, hrsg. von Kathrin Reichel, aus dem Französischen von Irene und Kathrin Reichel, Hamburg: material Verlag, 1998 (material 100), S. 24-27, hier S. 24.
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Joseph Nicéphore Niépce: Blick aus seinem Arbeitszimmer im Maison du Gras, 1827 Quelle
Quelle
Joseph Nicéphore Niépce: Blick aus seinem Arbeitszimmer im Maison du Gras, 1827, 16,6 x 20,2 cm, Reproduktion von Helmut Gernsheim (aus: Helmut Gernsheim, Geschichte der Photographie. Die ersten hundert Jahre, Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Propyläen, 1983 [Propyläen Kunstgeschichte, Sonderband III], S. 96)
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Der beschriebenen Ansicht entspricht jene Aufnahme von 1827, die als früheste überliefert ist. Wegen der geringen Lichtempfindlichkeit der verwendeten Asphaltschicht war eine Belichtung von etwa acht Stunden erforderlich, weshalb auch die sich zugewandten Seiten der Gebäude im Sonnenlicht liegen und ihr Schatten gewissermaßen über den Hof gewandert ist, was sich in einem weißen Dreieck eingeschrieben hat. Dass die beiden Aufnahmen von 1816 wesentlich schärfer ausgefallen sein müssen, wird an dem Hinweis des Briefschreibers deutlich: "Selbst die Fensterscheiben erscheinen an einigen Stellen transparent."
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J. N. Niépce, Schreiben an Claude Niépce vom 28. Mai 1816, in: Nicéphore Niépce, Der Blick aus dem Fenster. Gesammelte Briefe, hrsg. von Kathrin Reichel, aus dem Französischen von Irene und Kathrin Reichel, Hamburg: material Verlag, 1998 (material 100), S. 24-27, hier S. 24.
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Nicht an den weit entfernten oder besonders kleinen Dingen wird die Genauigkeit der fotografischen Wiedergabe gemessen, sondern daran, ob hinter der Scheibe des Fensters noch etwas erkennbar ist. Das Attest zur Fotografie betont, dass diese etwas durchdringe, erkennbar mache, indem sie das Dahinterliegende in den Vordergrund rücke - das Durchsichtige steht begrifflich auch für das Vordergründige -, also in dieselbe Ebene versetze.
Vom Fenster aus eröffnet sich ein neuer Blick auf die Welt, deren Vielfalt und Kleinigkeiten ins Bild gesetzt werden und dem Geist der Aufklärung Material und Erkenntnis liefern. In einer Skizze mit dem Titel "Scarron am Fenster" lässt 1798/99 Karl Friedrich Kretschmann seinen Helden von einem privilegierten Platz seiner Wohnung in Paris aus auf die Gegebenheiten sehen, die sich unter dem Fenster abspielen. Das Zimmer, so beschreibt es der Held, "ist geraum und licht genug; hat drei Fenster auf die Straße hinaus, gerade den Tuilerien gegen über; an dem einen steht ein Armstuhl für mich, der ist mein Observatorium."
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Zit. nach: Rolf H. Krauss, Photographie und Literatur. Zur photographischen Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Ostfildern: Hatje Cantz, 2000, S. 43.
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Von dieser Sternwarte aus kann Scarron also den ganzen Kosmos,
seinen Kosmos, überblicken. Eine 1822 veröffentlichte Erzählung basiert auf einer ganz ähnlichen Situation und ist wesentlich bekannter: In "Des Vetters Eckfenster" von 1822 nimmt E.T.A. Hoffmann Bezug auf Scarron, der ebenso gelähmt ist wie seine Hauptfigur. Auch dieser beobachtet vom Erker aus das Treiben auf dem Marktplatz, und die Szenen, die er sieht, erfüllen ihn wieder mit Lebensmut und geben ihm seine Kreativität zurück, nachdem er als Schriftsteller in eine Schaffenskrise geraten war.
Bemerkenswert an beiden Texten ist, dass nicht die Beschreibung des Gesehenen im Zentrum steht, sondern die Wirkung auf den jeweiligen Beobachter. Bei Hoffmann findet sich eine Passage, in der dem Ich-Erzähler vom Vetter die Voraussetzungen des Be-Schreibens klar gemacht werden: ihm fehle "nämlich ein Auge, welches wirklich schaut". Und die Geschichten, die er zu den Personen unter seinem Erker erfindet, schöpfe er aus der "Kunst zu schauen".
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E.T.A. Hoffmann, "Des Vetters Eckfenster" [1922], in: E.T.A. Hoffmann's ausgewählte Novellen, Zweiter Theil, Berlin: A. Hofmann & Comp., 1853, S. 209-237, hier S. 212.
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Es ist also der Blick, der den Bildern nicht nur Gestalt gibt, sondern sie auch mit Inhalt ausfüllt.
Caspar David Friedrich räsoniert mit den beiden Bildern "Blick aus dem Atelier" (linkes und rechtes Fenster) von um 1815 ebenfalls über das Sehen, seine Reichweite und die Bedingtheiten des Blickwinkels. "Die beiden Blätter zeigen je einen Blick durch das linke und das rechte Fenster von Friedrichs Atelier 'in Dresden vor dem Pinaischen Thore', wie es auf der Adresse eines auf dem linken Fensterbrett liegenden Briefes heißt - das Gesicht des Adressaten selbst erscheint auf dem rechten Blatt im vom Bildrand überschnittenen Spiegel. Das linke Fenster steht leicht schräg im Bild, das rechte dagegen erscheint frontal."
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Karlheinz Nowald [1973], zit. nach: Wolfgang Kemp, "Sehsucht: Die Engführung", in: Sehsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung, hrsg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen: Steidl, 1995 (Schriftenreihe Forum, Bd. 4), S. 53-66, hier S. 62, vgl. auch die Interpretation Kemps, S. 62 f.
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Der eine der beiden dort geöffneten Fensterflügel spiegelt das Fensterkreuz und erlaubt den Durchblick auf die Mauerkante, weist also wie die wenigen Malerutensilien auf das Innere des Ateliers und deutet an, dass der Künstler insbesondere auf sich selbst blickt.
Wogegen Adalbert Stifter das Fenster sozusagen hinter sich lässt, also in dem Gemälde von 1839 nicht mit einbezieht.
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Abgebildet u.a. in: Adalbert Stifter in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Urban Roedl, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag, [1965], 1971 (rowohlt monographien, 86), S. 51; dort auch ein weiteres Gemälde von 1839, das einen Blick über "Wiener Vorstadthäuser" zeigt.
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Er wählt damit dieselbe Perspektive von seiner Wiener Wohnung in einem oberen Stockwerk aus wie bereits Daguerre 1838 in seiner Aufnahme des "Boulevard du Temple"
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und viele Besitzer der ersten Kameras, die zu erwerben gewesen sind. "Jeder wollte den Anblick aus seinem Fenster festhalten, und der war ein glücklicher Mann, dem beim ersten Versuch eine Silhouette der Dachfirste vor dem Himmel gelang", erinnert sich Marc Antoine Gaudin 1844 an die Anfänge der Daguerreotypie in Paris.
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Zit. nach: Beaumont Newhall, Geschichte der Photographie, Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, München: Schirmer/Mosel, 1984, S. 25. Weitere Beispiele sind abgebildet in dem Kapitel "Vues de Paris et de France" in: Le daguerréotype français. Un objet photographique, Ouvrage collectif sous la responsabilité scientifique de Quentin Bajac et Dominique Planchon-de-Font-Réaulx, Ausstellungskatalog Musée d'Orsay, Paris: Editions de la Réunions des musées nationaux, 2003, S. 213-259. Hippolyte Fizeau fertigt noch im Frühjahr und Sommer 1843 um die 30 Daguerreotyp-Platten mit Aufnahmen von Dächern aus dem Fenster seiner Wohnung in Paris; vgl. René Perret, Kunst und Magie der Daguerreotypie. Collection W.+T. Bosshard, Brugg: BEA + Poly-Verlags AG, 2006, S. 28.
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Die früheste im Oktober 1839 in den USA gemachte Daguerreotypie von Joseph Saxton zeigt einen Blick aus dem Fenster seiner Werkstätte in Philadelphia.
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Abb. in: Josef Maria Eder, Geschichte der Photographie, Erste und Zweite Hälfte, 2 Bde., Halle (Saale): Wilhelm Knapp, 41932 (Ausführliches Handbuch der Photographie, Bd. 1, Teil 1), S. 361.
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Auch Hermann Krone gelingt die erste Kalotypie von seiner Wohnung in Breslau aus: "Der 15. Juli 1843 ist für mich der erste erfolgreiche Freudentag - ich kann endlich das gegenüberliegende Bodenfenster und die Dachziegeln über demselben in meinem immer noch recht fleckigen kleinen Kalotyp-Negativ deutlich erkennen - also mein erstes photographisches Resultat."
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Hermann Krone, "Erinnerungen aus alter Zeit", in: Süddeutsche Photographen-Zeitung, München 1896, S. 267-274, 301-309, hier S. 267
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Abgesehen vom störungsfreien und unbeobachteten Arbeiten in den eigenen vier Wänden gehört das Ausschau halten zu - könnte man sagen - den Errungenschaften der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die Butzenscheiben und getönten Fenstergläser waren durchsichtigem Glas gewichen, und im biedermeierlichen Wien war manche Wohnung der Beletage mit einem Fenster ausgestattet, das nach außen gewölbt war und den Blick nach links und rechts die Strasse entlang erlaubte. Der erhöhte Standort und die teilweise Rundsicht eröffneten zumindest jenen, die sich in die höheren Stockwerke begeben hatten, eine Sicht analog den Insassen von Ballons und den Besuchern von Panoramen. Nur dass sie gegenüber den einen den Vorteil des stabilen und unbewegten Standpunktes ohne ständig wechselnde Perspektive und gegenüber den anderen keine gemalte Szenerie, sondern reale Erscheinungen vor sich hatten.
Von allen Lichtbildnern hat sich Talbot am intensivsten und ausdauerndsten mit den Fragen der fotografischen Betrachtung auseinandergesetzt. Im Kommentar zur "Ansicht der Boulevards von Paris" - als Tafel II in
The Pencil of Nature 1944 veröffentlicht - werden die perspektivischen Besonderheiten des Standorts an "einem der oberen Fenster des Hôtel de Douvres", was die Möglichkeiten wie die Einschränkungen der Sicht anlangt, dargelegt. In den Bemerkungen zur Tafel XIII, dem "Eingangstor zum Queens College in Oxford" gewidmet und "von einem Fenster an der gegenüberliegenden Seite der High Street aus aufgenommen", erkennt der Fotograf "eine Vielzahl kleiner Details, die niemand erwartet oder zuvor bemerkt hatte."
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Zit. nach: Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, hrsg. von Wilfried Wiegand, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1981, S. 61 und 74.
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Nicht das Auge des Fotografen oder das Objektiv der Kamera, sondern das Fenster wird als jener Punkt erwähnt, von dem aus sich das Koordinatensystem der fotografischen Ansicht entfaltet.
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Rosalind Krauss, "Photographie und Abstraktion", in: Frag.mente. Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse, Thema: Geschriebene Bilder. Das Theater der Repräsentation, Kassel, hrsg. von der Gesamthochschule Kassel. Universität (GhK), Nr. 41, Juni 1993, S. 155-159, hier S. 157 f.
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William Henry Fox Talbot: Erkerfenster in der Südgalerie von Lacock Abbey, 1835 Quelle
Quelle
William Henry Fox Talbot: Erkerfenster in der Südgalerie von Lacock Abbey, 1835, Negativ ca. 1,6 x 1,6 cm (aus: Photoblätter, 12. Jg., 1935, S. 8)
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William Henry Fox Talbot: "Middle Window, South Gallery, Lacock Abbey", April 1839 Quelle
Quelle William Henry Fox Talbot: "Middle Window, South Gallery, Lacock Abbey", April 1839, Bild 20,2 x 15,2 cm (aus: Larry J. Schaaf, The Photographic Art of William Henry Fox Talbot, Princeton and Oxford: Princeton University Press, 2000, S. 51)
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Bereits die erste gelungene Aufnahme Talbots von 1835 entstand als Innenansicht eines Erkerfensters von Lacock Abbey, dem Wohnsitz des Fotografen und Wissenschaftlers. Noch führt die geringe Lichtempfindlichkeit des beschichteten Papiers dazu, dass sich die Sprossen und die außerhalb befindlichen Dächer und Fassaden der Gebäude nur undeutlich niederschlagen und - wie in einem Schattenriss - bloß als helle und dunkle Flächen abbilden. Entsprechend bezeichnet der Erfinder zunächst die neue Kunst als Skiagraphie (Schattenschrift). Doch Talbot stellt auch späterhin das Fenster immer wieder in den Mittelpunkt seiner fotografischen Exkursionen. Während des Paris-Aufenthalts 1843 wird die Kamera nicht nur auf den Boulevard des Capucines gerichtet, sondern auch auf die dem Hotel gegenüberliegende Häuserfront. Mit den beiden überlieferten Aufnahmen schaut der Fotograf das eine Mal aus dem Fenster, dessen Rahmen nicht ins Bild gerät. Für die andere Aufnahme ist die Kamera weiter ins Zimmer gerückt, so dass die Mittelsprosse und ein halb geöffneter Fensterflügel den Vordergrund bilden. Alle Ansichten sind eine Frage des Standpunktes, lautet die eine Botschaft. Zum anderen finden der fotografische Akt und die Sichtweisen im Realen ihre Entsprechung in der instrumentellen Ausrichtung der Fotografie: Das dunkle Zimmer fungiert analog der Camera obscura, deren Linse - wie das Fenster - den Blick ebenso freigibt wie eingrenzt.
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William Henry Fox Talbot: Blick aus dem Fenster seines Hotels in Paris, 1843 Quelle
Quelle Talbot: Blick aus dem Fenster seines Hotels in Paris, 1843, Wachspapier-Negative, Bilder jeweils ca. 11 x 8,1 cm, (aus: André Jammes, William H. Fox Talbot. Ein grosser Erfinder und Meister der Photographie, [Übersetzung aus dem Französischen von Max A. Wyss], Luzern, Frankfurt/M.: C.J. Bucher, 1972 [Bibliothek der Photographie, hrsg. von Romeo E. Martinez, Bd. 2], o.S., Abb. 45 und 46)
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In einer der schönsten Kreationen bekundet Talbot die transitorischen Momente fotografischer Darstellung. In der am 18. Mai 1843 in Rouen entstandenen Aufnahme werden nicht die Maste der Segelschiffe fokussiert, sondern die Fläche des Fensters, hinter dem deren Konturen unscharf 'aufkreuzen'.
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Caspar David Friedrich stellt in der "Frau am Fenster" von 1822 nach der Lesart von Werner Hofmann den Betrachter - recte die Betrachterin - nicht nur als Figur ins Zentrum des Bildes, während Talbot über das Betrachten an sich Reflektionen anstellt. Hofmann identifiziert "die vorbeigleitenden Schiffsmaste" bei Friedrich als "Sehnsuchtssymbol" und schlägt das Motiv einer romantischen Auffassung zu. Vgl. Werner Hofmann, "Zu einem Bild Delaunays" [1954], in: ders., Bruchlinien. Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München: Prestel, 1979, S. 95-110, hier S. 105.
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An beiden Fensterflügeln sind Gardinen angebracht und etwa zur Hälfte auf die Seite geschoben, wobei je nach Dichte der Fältelung der Himmel mehr oder weniger durchscheint. Die Fotografie gibt das Bild einer Schwelle, wie es nur wenige Aufnahmen bis heute mit solcher Entschiedenheit und Akkuratesse zum Ausdruck zu bringen vermochten. Zugleich steht das Bild für die Metapher der Fotografie als Fenster zur Welt des Sichtbaren. Durch die Scheiben trifft der Blick auf Schiffsmaste, deren Unschärfe sie in Bewegung erscheinen lässt. Wie sich die schwankenden Schiffe der fotografischen Fixierung entziehen und quasi drohen, aus dem Bild zu verschwinden - bloß festgemacht im Augenblick des Fotografischen -, pendelt der Blick zwischen Innen und Außen, um immer wieder am Fensterkreuz einzuhalten, als würde der Augenblick der Aufnahme an dieser Schwelle verortet. Die Gardinen betonen diesen Ort des Durchgangs und fungieren zugleich als Schleier, der verunklärt, was hinter ihm liegt, ganz wie die bewegten Gegenstände ihre Konturen nur undeutlich im fotografischen Bild hinterlassen.
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Weitere Überlegungen zur Aufnahme Talbots werden angestellt von Anne McCauley, "Talbot's Rouen Window. Romanticism, Naturphilosophie and the Invention of Photography", in: History of Photography. Vol. 26, No. 2, Summer 2002, S. 124-131.
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William Henry Fox Talbot: Rouen,
16. Mai 1943 Quelle
Quelle William Henry Fox Talbot: Rouen, 16. Mai 1943 (aus: Hubertus von Amelunxen, Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot, Übersetzungen von Sebastian Wohlfeil, Berlin: Dirk Nishen, 1989, S. 114)
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In einer Vorstudie von 1841 zur Tafel VI und in der Fassung von 1844, die in
The Pencil of Nature zur Veröffentlichung gelangt ist, hat Talbot ein weiteres Mal die Frage der Schwelle - wenn auch mit anderer Betonung und an einem anderen Motiv - behandelt und um den (bildlichen) Hinweis auf die Verräumlichung der fotografischen Sicht erweitert. Der zwischen dem halb geöffneten Tor und dem im Hintergrund nur schwach erkennbaren, geschlossenen und wenig Licht durchlassenden Fenster liegt ein Raum im Dunkel, der seinen Inhalt nicht freigibt.
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Siehe die Abbildungen bei Larry J. Schaaf, The Photographic Art of William Henry Fox Talbot, Princeton and Oxford: Princeton University Press, 2000, S. 107 und 197.
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Talbot hat mehrfach jene andere Perspektive gewählt, bei der der Blick von außen auf ein Fenster trifft. Um 1839 hat er die Außenseite des Erkerfensters in der Südgalerie von Lacock Abbey aufgenommen, nachdem vier Jahre zuvor die Innenansicht zum ersten fotografischen Ergebnis geführt hatte. Spiegelt das Glas oder verhindert das Dunkel des dahinter liegenden Raumes ein Erkennen der dort befindlichen Menschen und Dinge, kommt Irritation auf. Nicht zufällig erwähnt Alexander von Humboldt anlässlich der Inaugenscheinnahme einer Daguerreotypie durch die Lupe, "daß in einer Dachluke - und welche Kleinigkeit - eine Fensterscheibe zerbrochen und mit Papier verklebt" gewesen ist.
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Alexander von Humboldt, Schreiben aus Paris an Herzogin Friederike von Anhalt Dessau, 7. Januar 1839, in: Erwin Koppen, Literatur und Photographie. Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung, Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1987, S. 37-39, hier S. 38.
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Die wie beiläufig eingeschobene Einschränkung verrät die Bedeutung dessen, was sie klein machen möchte, und damit die Unsicherheit ob der Zurückweisung des Blicks, dem ansonsten kein Detail der Aufnahme entgeht. "Wer von aussen durch ein offenes Fenster blickt, sieht nie so viel Dinge, wie der, der auf ein geschlossenes Fenster schaut."
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Charles Baudelaire, "Gedichte in Prosa" [ Petits Poèmes en Prose, 1869], in: ders., Ausgewählte Werke, München: Georg Müller, o.J. [1925], Bd. 2, S. 159-269, "Fenster", S. 240.
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Die Barriere, die visuell nicht zu überwinden ist, so Charles Baudelaire, beflügelt die Phantasie, die den Blick hinter diese imaginiert. Wie um die Banalität eines hell erleuchteten Fensters, das keine Geheimnisse verbirgt, zu dokumentieren, fotografiert Talbot 1844/45 die Auslage der Lovejoy's Library in Reading, wo mehrfach Werke des Fotografen ausgestellt und verkauft worden sind.
| Anonym: Frost on Window, um 1850 Quelle
Quelle Anonym: Frost on Window, um 1850, Daguerreotypie, Sechstelplatte (aus: Young America. The Daguerreotype of Southworth & Hawes, Ed. by Grant B. Romer and Brian Wallis, Ausstellungskatalog George Eastman House und International Museum of Photography, Rochester: George Eastman House, New York: International Museum of Photography, Göttingen: Steidl, 2005, S. 213, Nr. 1892) schliessen |
weitere Bilder:1
Florence Henri: Pariser Fenster, 1929 (aus: Christine Kühn, Eugène Atget. 1857 – 1927. Frühe Fotografien, Ausstellungskatalog Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Berlin 1998, S. 1)
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Aenne Biermann: „Blick durch mein Atelierfenster“, vor 1930 (aus: Aenne Biermann. Fotografien 1925–33, Ausstellungskatalog Folkwang Museum Essen, Berlin: Dirk Nishen, 1987, [Serie Folkwang], S. 36)
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3
Karl Heinrich Waggerl: ohne Titel, 1930er Jahre? (aus: Frauenmantel, Salzburg: Edition Fotohof im Otto Müller Verlag, 21993, 34)
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4
Paul Citroen: Blick aus dem Fenster, 1932 (aus: Retrospektive Fotografie: Paul Citroen, Bielefeld, Düsseldorf: Edition Marzona, 1978, Abb. 8)
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5
Josef Sudek: „Fenster meines Ateliers“, 1940–54 (aus: Josef Sudek. Das stille Leben der Dinge. Fotografien von 1940 – 1970 aus der Moravská Galerie, Brno, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Wolfsburg, Wolfsburg 1998, S. 29)
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6
Walker Evans: „Campaign Post: President Hoover, Massachusetts 1929“ (aus: Walker Evans. Amerika. Bilder aus den Jahren der Depression, hrsg. von Michael Brix und Birgit Mayer, München: Schirmer/Mosel, 1990, Abb. 12)
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7
André Kertesz: Fenster, Paris, 1928 (aus: André Kertesz. 60 Jahre Fotografie. 1912 – 1972, hrsg. von Nicolas Ducrot, Düsseldorf: Hanns Reich, 1974, S. 127)
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8
Toni Schneiders: „Spiegelnde Scheiben“, Lindau, 1952, 40 x 25,5 cm (aus: Bilder machen Leute. Die Inszenierung des Menschen in der Fotografie, Ausstellungskatalog Landesmuseum Koblenz, Ostfildern: Hatje Cantz, 2008, S. 196)
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9
Keichi Tahara: aus der Serie „Die Fenster“, 1974/78 (aus: Album der Photographie I, München: Prestel, 1980, S. 221)
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24.6./ 11.9.2008
© Timm Starl 2008
PDF - 3,5mb