„die doppelgänger, so heiszen die leute die sich selbst sehen“
(Jean Paul, 1818) 1
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Zit. nach: Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Leipzig: S. Hirzel, 1860, Sp. 1263.
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„Wollte er sagen, daß ihm der echte Pont-Neuf lieber sei
als sein Doppelgänger, die Daguerreotypie?“
(Rodolphe Töpffer, 1841) 2
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Rodolphe Töpffer, „Über die Daguerreotypie“ [1841], in: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie I. 1839 – 1912, München: Schirmer-Mosel, 1980, S. 70-77, hier S. 72.
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„Der Doppelgänger ist zum Schreckbild geworden [...]“
(Sigmund Freud, 1919) 3
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Sigmund Freud, „Das Unheimliche“ [1919], in: ders., Psychologische Schriften, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1970 (Studienausgabe, Bd. IV), S. 241-274, hier S. 259.
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„Wenn es [...] in Verbindung mit dem Original gesehen wird,
zerstört das Double die Singularität des ersten.“
(Rosalind Krauss, 1981) 4
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Rosalind Krauss, „Die photographischen Bedingungen des Surrealismus“ [„The photographic conditions of Surrealism“, 1981], in: Rosalind Krauss, Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, Übersetzt von Henning Schmidgen, München: Wilhelm Fink, 1998 (Bild und Text, hrsg. von Gottfried Böhm, Karlheinz Stierle), S. 100-123, hier S. 115.
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In den Jahren um 1839 treten allenthalben Doppelgänger auf. Als ob die Gesellschaft in den Spiegel blickte und ein neues Bild von sich erwartete. Nathanael in E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ von 1817 vermeint, der dämonische Coppelius und Coppola seien dieselbe Person, und die schöne Puppe Olimpia hält er für einen Menschen. Seine Wahnvorstellungen artikulieren sich im Erkennen und Verkennen der Figuren, die er fürchtet oder liebt. Clara weist auf die eigentlichen Hintergründe: „[G]laubst Du denn nicht, daß auch in heitern – unbefangenen – sorglosen Gemütern die Ahnung wohnen könne von einer dunklen Macht, die feindlich uns in unserm eignen Selbst zu verderben strebt?“
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E.T.A. Hoffmann, „Der Sandmann“ [1817], in: E.T.A. Hoffmann, Fantasie- und Nachtstücke, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985, S. 331-363, hier S. 340.
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Noch finden die zweifachen Identitäten ihren Ausdruck in den Nebenrollen, und insofern könnte Hoffmanns Erzählung als eine Art Vorspiel zu einem beliebten Thema in der Literatur der Romantik verstanden werden, die dem Doppelgänger eine Reihe von Werken widmen sollte.
In diesen Geschichten – wie jener des
William Wilson von Edgar Allan Poe aus dem Jahr 1839 – sind es die Hauptgestalten, die mit ihrem Doppelgänger konfrontiert werden. In Dostojewskis
Doppelgänger von 1846 verhält sich Goljädkin, als er bei einer unangenehmen Begegnung nicht erkannt werden will, als wäre er ein anderer, und ignoriert die Kollegen und den Vorgesetzten. Nachdem er bei einem Fest so sehr gedemütigt wird, dass er „am liebsten vor sich selbst davonlaufen“ möchte
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F.M. Dostojewski, „Der Doppelgänger. Eine Petersburger Dichtung“ [1846], in: ders., Sämtliche Werke in achtzehn Bänden, Lausanne: Editions Rencontre, o.J., Bd. 1, S. 195-395, hier S. 250.
schliessen , begegnet er seinem Doppelgänger. Dieser verfügt über alle Eigenschaften, um im Amt Karriere zu machen, während Goljädkin als Gehilfe des Bürovorstehers weiterhin eine untergeordnete Rolle spielt. So geschickt sich der eine gegenüber den Vorgesetzten als initiativ einerseits und willfährig andererseits verhält, so erfolglos bleibt der andere in seinem Unvermögen, die jeweils passende Rolle zu spielen.
Zu der Gattung dieserart Erzählungen mag man auch jene Texte rechnen, bei denen ein „Körpertausch“ vorgenommen wird. In einer „Volkssage“ von Alfred Meißner, die 1839 in Fortsetzungen erscheint, bietet ein missgestalteter Zwerg dem leichtsinnigen Guido Areno, der sein gesamtes Vermögen vergeudet hat, an: „Leih mit Deinen Leib auf drei Tage. Für diese Gefälligkeit überlasse ich Dir diese Schätze.“
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A. Meißner, „Der Körpertausch. Volkssage“, in: Allgemeine Theaterzeitung und Originalblatt für Kunst, Literatur, Musik, Mode und geselliges Leben, 32. Jg., Wien, 14. Oktober 1839, S. 1009 f., 15. Oktober, S. 1013 f. und 16. Oktober, S. 1017 f., hier S. 1010.
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Ähnlich verhält es sich bei dem jungen Mann in H.C. Andersens Märchen „Der Schatten“, der seinen Schatten an die Poesie verliert. Dieser kehrt nach einiger Zeit zurück – inzwischen wohlhabend und wohlbeleibt –, worauf der Held mehr und mehr in dessen Rolle schlüpft, um sich schließlich seines ‘erfolglosen' Schattens zu entledigen.
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Hans Christian Andersen, „Der Schatten“ [1847], in: ders., Der Schatten und andere Geschichten, Wien: Wilhelm Frick, 1945, S. 7-27.
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Dem Auftreten des Doppelgängers beziehungsweise des Helden in einer anderen Rolle liegt jeweils ein Mangel oder Verlust gesellschaftlicher Anerkennung zugrunde, woran es auch immer liegen mag: Armut, Herkunft oder das Fehlen bestimmter Fähigkeiten. In der
Comédie humaine, die ab 1842 zur Veröffentlichung gelangt, lässt Honoré de Balzac mehrere seiner Figuren eine Doppelrolle spielen. In
Le cousin Pons von 1847 setzt der Autor mit der zugrunde liegenden Ausgangssituation wie in einer Bemerkung zur neuen Bildwelt die ‘inneren' und ‘äußeren' Ansichten gegeneinander, richtet den Anschein gegen die realen Gegebenheiten. Vetter Pons führt in der Öffentlichkeit ein anspruchsloses Leben, obwohl er wertvolle Antiquitäten besitzt. Und zur Daguerreotypie bemerkt der Autor: „Wenn jemand zu Napoleon gekommen wäre und ihm gesagt hätte, daß ein Gebäude und ein Mensch jederzeit und unaufhörlich ein Bild in die Luft werfen, daß alle existierenden Gegenstände auf diese Weise als ungreifbares Gespenst sich wiederholen, würde er diesen Mann eingesperrt haben [...] Und doch hat Daguerre genau das durch seine Entdeckung bewiesen.“
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Honoré de Balzac, Vetter Pons [Le cousin Pons, 1847] [übersetzt von Otto Flake], Berlin: Ernst Rowohlt, o.J. [1924], S. 171.
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Louis-Auguste Bisson:
Honoré de Balzac, 1842 Quelle
Quelle
Louis-Auguste Bisson: Honoré de Balzac, Mai 1842, Daguerreotypie, 8,3 x 6,7 cm (aus: Le daguerréotype français. Un objet photographique, Ausstellungskatalog Musée d'Orsay, Paris, Paris: Editions de la Réunions des musées nationaux, 2003, S. 297)
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Abgesehen von einer einzigen bekannt gewordenen Aufnahme habe Balzac es abgelehnt, sich ein weiteres Mal daguerreotypieren zu lassen. Er sei der Meinung gewesen, es müsse „bei der Daguerreschen Photographie eine Schicht des abzubildenden Körpers erfaßt, abgelöst und auf die Platte gebannt werden. Daraus folgte, daß jeder Körper bei jeder photographischen Aufnahme eine seiner Spektralschichten, das heißt einen Teil seines elementaren Wesens einbüßte.“
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Nadar, Als ich Fotograf war [Quand j'étais photographe, 1900], Übersetzt von Trude Fein, Frauenfeld: Huber, 1978, S. 23.
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Diese Vorstellung ist überliefert in einem Rückblick des Fotografen Nadar von 1900, der sich vielfach aus anekdotisch gehaltenen Erinnerungen zusammensetzt, sie wird in Beiträgen zur Fotografiegeschichte und -theorie zu je unterschiedlichen Interpretationen immer wieder herangezogen
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Vgl. beispielsweise Erich Stenger, Siegeszug der Photographie in Kultur, Wissenschaft, Technik, Seebruck am Chiemsee: Heering, 1950, S. 191; Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie I. 1839 – 1912, München: Schirmer-Mosel, 1980, S. 31; Bernd Stiegler, Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006 (es 2461), S. 85.
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und allzu wörtlich genommen. Wir kennen nicht die tatsächliche Formulierung, mit der Balzac die Daguerreotypie bedacht hat, doch könnte er durchaus darauf abgehoben haben, dass Porträts nur eine Seite einer Person zeigen, nämlich die äußere „Schicht des abzubildenden Körpers“, welche Ansicht sich als Ergebnis einer Subtraktion ergebe und vorenthalte, was den eigentlichen Menschen ausmache. „[N]icht der Mensch tritt in seiner Photographie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem sie ihn abbildet, und fiele er mit ihr zusammen, so wäre er nicht vorhanden.“
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Siegfried Kracauer, „Die Photographie“ [1927], in: ders., Aufsätze 1927 – 1931, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990 (Schriften, Bd. 5.2), S. 83-98, hier S. 92.
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Dieser fiktive Zusammenfall macht den Betrachter seines Bildnisses erschrecken. Denn die Gleichzeitigkeit von Aufnahme und dem Blick auf das Ergebnis ist unmöglich, ist so absurd wie nur gedanklich zu vollziehen, und auch das Modell, das in die Kamera schaut, unterscheidet sich von der Person, die sich auf dem Bildnis sieht: Es ist jemand gewesen, der sich bei der Aufnahme nicht gesehen und ein Porträt erwartet hat, und später einer, der eine Wiedergabe vor sich hat, ohne sich jemals in dieser Position gesehen zu haben. So erblickt der Fotografierte ein „Gespenst [...] komisch und furchtbar zugleich“
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Siegfried Kracauer, „Die Photographie“ [1927], in: ders., Aufsätze 1927 – 1931, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990 (Schriften, Bd. 5.2), S. 83-98, hier S. 91.
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, umso mehr als das Modell nicht in seiner gewohnten Haltung und Umgebung vor der Kamera angetreten ist.
Sogar die Kleidung ordnet sich dem Diktat des fotografischen Prozesses unter, weil bestimmte Farben für eine kontrastreiche Aufnahme nicht geeignet sind. Auch müssen bei den ersten Daguerreotypien Gesicht und Hände gepudert werden, weil die empfindliche Schicht der Platte auf Weiß rascher reagiert als auf die Töne der Haut. Man richtet sich auf und nimmt eine Stellung ein, die ohne besondere Mühe einige Zeit ruhig durchzuhalten ist. Bei Gruppenporträts arrangieren sich die Teilnehmer nach der Maßgabe, den hierarchischen, verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Beziehungen Ausdruck zu verleihen. „[S]owenig die Aufgenommenen im Alltag sich mit ähnlichen Posen abmühten, so sehr sprachen sie vor dem Photographen ihre Absicht aus, anders zu sein.“
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Thomas Neumann, Sozialgeschichte der Photographie, Neuwied, Berlin: Luchterhand, 1966 (Soziologische Essays), S. 45.
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Der Auftritt erfolgt an einem öffentlichen Ort, dem Atelier, der mit den tatsächlichen Lebensumständen nichts gemein hat. Die Requisiten entsprechen nicht der Einrichtung zu Hause, das Mobiliar besteht aus Nachbildungen von Stücken aus früheren Zeiten und allen möglichen Kulturen. Die Hintergrundkulisse zeigt eine Phantasielandschaft oder das aufgemalte Interieur eines Wohnraums. Sie verstellt den Blick auf den Atelierraum und weitere Versatzstücke, die je nach Bedarf vor die Kamera geholt werden. Der Vorhang ist weder um einen Eingang noch um ein Fenster drapiert, sondern dient lediglich dazu, die Atmosphäre eines Salons vorzugeben.
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In der ersten Jahren der Porträtdaguerreotypie wurden zumeist neutrale Hintergründe verwendet, Vorhänge und bemalte Kulissen waren nur vereinzelt in Gebrauch und kamen erst Mitte der 1840er Jahre auf.
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In seinen Falten verrät sich die inszenatorische Absicht: Die Teile sind gegen einander gesetzt wie sich gleichende Kopien, zudem stehen die Falten als Merkmale des Alterns, samtene Wölbungen, die jedes Licht und jeden Laut schlucken und das Gegenwärtige gleichsam absorbieren. Die Falte ist – in einer Bestimmung von Rosalind Krauss, wenn auch unter anderem Vorzeichen entstanden – „ein Ort der Dunkelheit, Verschwiegenheit, Geheimhaltung. Ein Geheimnis (aus der Vergangenheit), das in der Gegenwart als Wiederholung ans Tageslicht kommt und dabei kein vertrautes Gefühl hervorbringt, sondern einen Schauder der Fremdheit, der Vorahnung – dies sind die Bedingungen des Unheimlichen.“
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Rosalind Krauss, „Photographie und Abstraktion“, in: Frag.mente. Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse, Thema: Geschriebene Bilder. Das Theater der Repräsentation, Kassel, hrsg. von der Gesamthochschule Kassel. Universität (GhK), Nr. 41, Juni 1993, S. 155-159, hier S. 157 f.
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Joseph und Johann Natterer:
Joseph Berres, 1840 Quelle
Quelle
Joseph und Johann Natterer: Joseph Berres, 1840, Daguerreotypie, Durchmesser 10,3 cm (aus: Maren Gröning, Monika Fabe, Inkunabeln einer neuen Zeit. Pioniere der Daguerreotypie in Österreich 1839 – 1850, Ausstellungskatalog Albertina, Wien: Christian Brandstätter, 2006 [Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 4], S. 31)
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Wiederholung bedeutet, dass etwas davor gewesen ist. Dies ist die Vergangenheit, die der Atelierkunde im Bild und als Bild sucht. Als Bürger gehört er zu den Vertretern einer aufkommenden Schicht, die das Territorium der Wirtschaft zu beherrschen beginnt, während die politische Macht weiterhin in den Händen der Aristokratie liegt. Mangels eigener Tradition nimmt er deren Repräsentationen zum Vorbild. Der Bürger mit fehlender genealogischer Reputation begründet eine eigene Ahnengalerie, die seine Nachkommen ergänzen und fortsetzen, indem sie ihre Porträts dem heimischen Familienalben einverleiben. Anregung findet er in den Bildnissen des Adels, deren Posen übernommen werden. Der Fotograf ist nicht der Künstler, der in der Malerei Orientierung sucht, sondern der Klient übernimmt eine tradierte Haltung – der Fotograf fungiert als Agent, der die bürgerlichen Vorstellungen vermittelt.
Nimmt der Fotografierte das bildliche Ergebnis zur Hand, tritt er nicht sich, sondern seinem Doppelgänger gegenüber
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„Denn die PHOTOGRAPHIE ist das Auftreten meiner Selbst als eines anderen [...]“ Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 21.
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– jemandem, der seinen Anspruch auf Individualität aufgegeben hat zugunsten einer Rolle, die ihn als gleichartiges und gleichwertiges Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppierung auszeichnet. Das individuelle Bildnis ist in einem sozialen aufgegangen. Man kann die Daguerreotypie gerade oder schräg vor sich halten, immer tritt der Doppelgänger auf, indem er seine positive oder negative Seite präsentiert. Und im Spiegel der silbrig glänzenden Fläche erblickt der Betrachter sein Gesicht zusammen mit dem des ‘Fremden‘, der dieselben Gesichtszüge aufweist – er sieht sich doppelt. Doch es ist ein Gespenst, farblos und ohne Körper.
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Grandville: „Der laufende Spiegel“, 1843 Quelle
Quelle Grandville: „Der laufende Spiegel“, 1843 (aus: Spiegelbilders, Ausstellungskatalog Kunstverein Hannover u.a., Hannover 1982, S.187)
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Die Ähnlichkeit lässt schaudern, weil der lebendige Zeitgenosse im Blick auf sein Bildnis mit einem vergangenen Augenblick konfrontiert wird, jenem Augenblick, der ohne Zweifel gewesen ist, aber nicht erinnert werden kann und es auch niemals konnte. Denn das Gegenwärtige ist immer schon vorbei, sobald der Gedanke sich ihm nähert, und kann nur im Kleid des Vergangenen auftreten. Es ist ein eigenartiges, „ungutes Gefühl“, das uns beim Blick auf das Abbild der eigenen Person beschleicht; man findet nicht die richtige Distanz, als stünde man zwischen sich und dem Bild; und immer hat die Wiedergabe etwas Fremdes, selbst wenn sie jüngsten Datums ist. Im Blick auf das eigene Porträt tritt „die Empfindung und Gegenwart in eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart“ bringt.
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J.W. von Goethe, „Entoptische Farben / Wiederholte Spiegelungen“ [1820], zit. nach: Jan M. Broekman, „Zweite Gegenwart“, in: Phänomenologie und Marxismus. IV. Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979 (stw 273), S. 75-94, hier S. 76. Auch Roland Barthes verspürt ein „leichte[s] Unbehagen, das mich beim Betrachten ‘meiner selbst' auf einem Stück Papier überkommt.“ Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie [La chambre claire. Note sur la photographie, 1980], Übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 21.
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Was Goethe für die sprachliche Artikulation anmerkt, gilt desgleichen für die bildliche, in der die Gegenwart der Betrachtung auf jene der Bildgewinnung stößt. In diesem Moment ist der Betrachter des Bildes seinem Blick, der keine Orientierung verheißt, hilflos ausgeliefert. Die Sicht gerät ins Schwanken, den Betrachter erfasst eine Art Schwindel und „Bestürzung. Während mein Bewußtsein etwa zu neunzig Prozent denkt, daß ich auf der Welt bin, daß ich ich bin, denkt es zu etwa zehn Prozent, daß ich unsichtbar bin.“
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J.W. von Goethe, „Entoptische Farben / Wiederholte Spiegelungen“ [1820], zit. nach: Jan M. Broekman, „Zweite Gegenwart“, in: Phänomenologie und Marxismus. IV. Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979 (stw 273), S. 75-94, hier S. 76. Auch Roland Barthes verspürt ein „leichte[s] Unbehagen, das mich beim Betrachten ‘meiner selbst' auf einem Stück Papier überkommt.“ Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie [La chambre claire. Note sur la photographie, 1980], Übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 21.
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Albert Londe: Charles Sauvé schenkt sich ein,
um 1888 Quelle
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Albert Londe: Charles Sauvé se servant à boire, um 1888 (aus: Albert Londe, Paris: Nathan, 1999 [Photo Poche, 82], Abb. 55)
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Alfred Parzer-Mühlbacher: „Die Doppelgängerin“,
1904 Quelle
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Alfred Parzer-Mühlbacher: „Die Doppelgängerin“, 1904 (aus: A. Parzer-Mühlbacher, Photographisches Unterhaltungsbuch. Anleitungen zu interessanten und leicht auszuführenden photographischen Arbeiten, Berlin: Gustav Schmidt, 21906, S. 77)
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weitere Bilder:1
Henri Roger: Roger beim Damespiel und als Zuschauer, 1893/95 (aus: Prestige de la Photographie, No. 8, janvier 1980, S. 23)
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Unbekannter Amateur, Großbritannien: Doppelporträt, um 1910, Postkarte, 14 x 9 cm (aus: Clément Chéroux, Ute Eskildsen, Frankierte Fantastereien. Das Spielerische der Fotografie im Medium der Postkarte. Aus den Postkartensammlungen Gérard Lévy, Peter Weiss, Ausstellungskatalog Fotomuseum Winterthur u.a., Göttingen: Steidl, 2007, S. 162)
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Unbekannter Amateur: Doppelgängerporträt, um 1928, Postkarte, 9 x 14 cm (aus: Clément Chéroux, Ute Eskildsen, Frankierte Fantastereien. Das Spielerische der Fotografie im Medium der Postkarte. Aus den Postkartensammlungen Gérard Lévy, Peter Weiss, Ausstellungskatalog Fotomuseum Winterthur u.a., Göttingen: Steidl, 2007, S. 173)
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Auch um nur gelegentlich diesem seltsamen Ebenbild zu begegnen, werden Daguerreotypien gewöhnlich in Kästchen verwahrt, die mit einem Deckel und einer Schließe versehen sind. Diesem Gehäuse analog finden später die Abzüge in den Alben jenes Dunkel, das sie ebenso vor dem Ausbleichen schützt, wie es ihnen eine andauernde visuelle Präsenz vorenthält. Noch ein anders geartetes Mittel wird ab den 1860er Jahren angewendet, um den ‘Spuk' zu bannen: Doppelgängerbilder, die mittels zweifacher Belichtung entstehen. Das Modell tritt in zwei unterschiedlichen Posen oder Rollen auf, während bei den beiden Aufnahmevorgängen jeweils eine Hälfte der Platte durch eine Blende oder eine andere Vorrichtung abgedeckt wird. Derselbe Effekt wird – wenn auch ohne Wechsel von Haltung und Kleidung – mit „Multiphotographien“ erreicht, indem das Modell vor zwei schräg zueinander gerichteten Spiegeln posiert und die Kamera in seinem Rücken platziert ist. Diese Schöpfungen werden von den Zeitgenossen als Scherzbilder angesehen,
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Zu Doppelgängerbildern und „Multiphotographien“ vgl. beispielsweise A. Parzer-Mühlbacher, Photographisches Unterhaltungsbuch. Anleitungen zu interessanten und leicht auszuführenden photographischen Arbeiten, Berlin: Gustav Schmidt, [1905] 21906, S. 71-92.
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von manchen Fotohistorikern als Vorbilder der Avantgarde der 1920er Jahre
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Zu Doppelgängerbildern und „Multiphotographien“ vgl. beispielsweise A. Parzer-Mühlbacher, Photographisches Unterhaltungsbuch. Anleitungen zu interessanten und leicht auszuführenden photographischen Arbeiten, Berlin: Gustav Schmidt, [1905] 2 1906, S. 71-92.
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interpretiert.
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„Herstellung einer Multiphotographie“, 1906 Quelle
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„Herstellung einer Multiphotographie“, (aus: A. Parzer-Mühlbacher, Photographisches Unterhaltungsbuch. Anleitungen zu interessanten und leicht auszuführenden photographischen Arbeiten, Berlin: Gustav Schmidt, 21906, S. 91)
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Broadway Photo Shop, USA: Marcel Duchamp, 1917
Quelle
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Broadway Photo Shop, USA: Marcel Duchamp, 1917, Postkarte, 9 x 14 cm (aus: Clément Chéroux, Ute Eskildsen, Frankierte Fantastereien. Das Spielerische der Fotografie im Medium der Postkarte. Aus den Postkartensammlungen Gérard Lévy, Peter Weiss, Ausstellungskatalog Fotomuseum Winterthur u.a., Göttingen: Steidl, 2007, S. 143)
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Davor steht jedoch die Absicht, den Doppelgänger gewissermaßen im Bild dingfest zu machen, die Ängste in einem besonderen Genre aufzuheben. Mit Anleitungen werden Amateure und Berufsfotografen in der Anfertigung unterwiesen, so dass sie sich, Familienmitglieder und Freunde in entsprechenden Inszenierungen festhalten können. Auch der Fotohandel bietet dieserart Kreationen als Sammelbilder an, und die Käufer ergänzen damit ihre familiäre Bildersammlung, wie um die Doppelgänger in den eigenen Porträts zu verscheuchen. Die vordergründige Komik der Bilder – wenn dieselbe Person beispielsweise als Kellner und Gast auftritt – liefert den Vorwand, der ein befreiendes Lachen erlaubt.
Einen anderen Weg findet Francis Galton mit einer Methode, mittels derer sich fotografische Typen kreieren lassen. Gleich große Porträts von Angehörigen einer Gruppe – Offiziere, Verbrecher, Verwandte – werden nacheinander auf dieselbe Platte aufgenommen, so dass ein „Idealportrait“ entsteht, das die Gesichtszüge aller Beteiligten vereint. Abgesehen von dem Nutzen für Anthropologen ermöglichen diese „Kompositions-Photographien“ – oder Kompositfotos, wie sie heute genannt werden – eine besondere Anwendung. „Wenn man [...] von einer und derselben Person Photographien in gleicher Stellung zu verschiedenen Zeiten aufnimmt und so verschiedenartige Gesichtsausdrücke fixirt und die so erhaltenen Bilder komponirt, so werden die Mängel des einzelnen Bildes in der Komposition verschwinden und der richtige Gesammt-ausdruck gelangt zur Geltung.“
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O.A., „Kompositions-Photographien“, in: Photographisches Wochenblatt. Zeitschrift für Photographie und vervielfältigende Künste, 5. Jg., Berlin 1879, S. 204-205, hier S. 204 f.
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Damit löst sich die Detailtreue des einzelnen Bildnisses in der Unschärfe des Mischporträts auf, die Ähnlichkeit mit dem aktuellen Aussehen des Einzelnen ist nur mehr eine ungefähre. Auch der Zeitpunkt, wann die einzelnen Aufnahmen entstanden sind, ist nicht mehr auszumachen, das Vergangene wird zum Phantom, das Bild gibt das ‘Es ist so gewesen' nicht mehr her.
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Francis Galton: Kriminelle, 1883 Quelle
QuelleFrancis Galton: Kriminelle, 1883, Kompositbild, „Zusammengesetzte Porträts mittels überlagerten Aufnahmen. Versuch eines allgemeingültigen Kriminellen-Porträts“ (aus: Neue Geschichte der Fotografie, hrsg. von Michel Frizot, Köln: Könemann, 1998, S. 266)
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Galtons Mischtechnik fällt in eine Zeit des Umbruchs im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Seine mit undeutlichen Konturen ausgestatteten Gesichter schaffen gleichermaßen die Möglichkeit der Identifizierung wie Distanzierung. Der Einzelne bezieht sein Selbstverständnis aus dem Abstand zu sozialen Klassen, Schichten oder Gruppierungen, von denen die anthropometrischen Untersuchungen der Kriminalisten Anschauungsmaterial liefern. Es bedarf nicht mehr der individuellen Inszenierung im Porträt, um seinen Status innerhalb der Gesellschaft zu dokumentieren. Entsprechend verschwinden dieserart Symbole immer mehr aus den Atelierbildern und machen Darstellungen und Attributen Platz, die von den Neigungen künden, denen man in Vereinen oder im Kreis von Familie und Freunden nachgeht. Dass um die Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend die Gartenbank aus Birkenholz und der Sonnenschirm in Atelierbildnissen auftauchen, weist auf die Bereitschaft der Berufsfotografen, den geänderten Freizeitbedürfnissen ihrer Kundschaft Ausdruck zu verleihen.
Im Privatleben werden Terrains bereitet, die dem Einbruch des Öffentlichen und der zunehmenden Entfremdung im Arbeitsleben entgegen wirken. Der ‘alltägliche' Doppelgänger findet Eingang in die Literatur und wirkt weit weniger dämonisch, weil er als Erlebnis des Autors geschildert wird. Iwan Turgenjew begegnet ihm, wenn er allein ist und das Gefühl hat, „ein anderer befände sich in meinem Zimmer, sitze neben mir oder stehe hinter mir. [...] Ich fürchte es nicht ... Doch fühle ich mich nicht wohl in seiner Gesellschaft [...] Gleichzeitig empfinde ich es nicht als ein von mir unterschiedenes, fremdes Wesen.“ Der Erzähler merkt aber auch, „wenn ich mich dann umwende oder auf einmal dahin blicke, wo ich jene Gestalt vermute, sehe ich selbstverständlich nichts.“
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Iwan S. Turgenjew, „Wenn ich allein bin (Der Doppelgänger)“, in: ders., Erzählungen 1857 – 1883. Gedichte in Prosa, Wiesbaden: Drei Lilien, o.J., S. 928.
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Es wird also nicht nur in der Ich-Form darüber befunden, sondern auch das ‘Geheimnis' gelüftet. So wie bei Ernst Mach, der 1885 berichtet: „Ich stieg einmal nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen Omnibus, eben als von der anderen Seite auch ein Mann hereinkam. ‘Was steigt doch da für ein herabgekommener Schulmeister ein', dachte ich. Ich war es selbst, denn mir gegenüber befand sich ein großer Spiegel. Der Klassenhabitus war mir also viel geläufiger, als mein Specialhabitus.“
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Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen [1886], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987, Nachdruck der neunten Auflage von 1922, S. 3, Anm. 1.
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Als Bild ist die soziale Rolle so sehr geläufig geworden, dass sich die individuellen Kennzeichen erst auf den zweiten Blick erschließen.
Wie in den literarischen Darstellungen der Ich-Erzähler dem Doppelgänger eine andere Seite abgewinnt, treten in den fotografischen neue Autoren mit anderen Konzepten auf den Plan. Die piktorialistisch orientierten Amateure der Klubs und die Knipser greifen zur Kamera, um ein selbst verfasstes Bild von sich und der Welt zu machen. Obgleich mit unterschiedlichen gestalterischen Ambitionen ans Werk gegangen und unter Anteil oder Ausschluss der Öffentlichkeit werden von beiden Gruppen die traditionellen Formen der Porträtdarstellung verlassen. Die Modelle agieren nicht mehr auf der Bühne des professionellen Lichtbildners, sondern in den eigenen vier Wänden, im Garten oder in der freien Natur – dort wo sich ihr Dasein in der Freizeit abspielt. Sie umgeben sich auch nicht mehr mit geliehenen Versatzstücken der Bildung und Kultur, des Besitzes oder des Berufes, sondern zeigen sich mit den Utensilien des alltäglichen Bedarfs oder der individuellen Vorlieben.
Zu einer solchen gehört auch der Umgang mit der Kamera und das Betrachten der Bilder: bei den Amateuren mit Kunstanspruch im Rahmen der Veranstaltungen des Vereins, bei den Knipsern im Kreis der Familie oder Freunde. Die privaten Alben verwahren nicht mehr die repräsentativen Bildnisse der Vorfahren, sondern die Schnappschüsse von Anlässen, an die man sich gerne erinnern möchte. Nicht (allein) die Familiengeschichte soll in Bildnissen aufgezeichnet sein, sondern anekdotische Momente aus dem Alltag herausgestellt und gesammelt werden. Mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit entfallen die Zurichtungen, die deren Konventionen des Status' und Geschmacks geschuldet sind und die Starre der Präsentationen im Bild und als Bild bestimmen.
Entsprechend ändert sich die Gestalt der Alben mit privaten Fotografien: Die Anordnung der Abzüge ist nicht mehr durch ausgestanzte Fenster vorgegeben, die Blätter bestehen nicht mehr aus steifem, sondern aus biegsamem Karton, die Alben und Kartons haben keine Schließen. Das Intime schirmt sich außerdem ab, indem Motive gewählt werden, zu denen der Außenstehende keinen Zugang findet.
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Vgl. Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, Ausstellungskatalog Münchner Stadtmuseum, München: Köhler & Amelang, 1995, S. 9.
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Nur die Beteiligten erkennen die Umstände, die zu den Aufnahmen geführt haben und vermögen sich in diesen – über das Dabeisein, nicht über die Ähnlichkeit – als sie selbst zu sehen. In dem Maße die private Fotografie an Terrain zur bildlichen Selbstdarstellung gewinnt, verschwinden die Doppelgängerbilder aus den Verkaufsregalen des Fotohandels.
Die theoretische ‘Entlastung' liefert die Psychologie: Sigmund Freud entdeckt „Das Unheimliche“ zum guten Teil in der Figur des Doppelgängers. „Denn der Doppelgänger war ursprünglich eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs [...]“, heißt es, und auch: „Der Moment der Wiederholung des Gleichartigen wird als Quelle des unheimlichen Gefühls vielleicht nicht bei jedermann Anerkennung finden. Nach meinen Beobachtungen ruft es unter gewissen Bedingungen und in Kombination mit bestimmten Umständen unzweifelhaft ein solches Gefühl hervor [...]“
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Sigmund Freud, „Das Unheimliche“ [1919], in: ders., Psychologische Schriften, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1970 (Studienausgabe, Bd. IV), S. 241-274, hier S. 258 f.
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Als Quellenmaterial führt Freud anfangs den „Sandmann“ von E.T.A Hoffmann und zum Ende Johann Nestroys
Der Zerrissene von 1844 an, deren Erscheinen nicht zufällig mit dem Aufkommen von Daguerreotypie und Fotografie zusammengefallen ist, jenen Medien, die mit der Kamera für die Bildwelt bewerkstelligen, was die Maschinen in der industriellen Güterproduktion vollziehen: die Herstellung von Duplikaten.
24.6./ 11.9.2008
© Timm Starl 2008
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