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„Den Kitsch gibt es seit jeher.“
(Leo Popper. 1910) 1

„Der Kitsch ist ein Feind der Wirklichkeit [...].“
(Erich Kästner, 1928) 2

„Soviel Leute, so viele Formen des Kitsches.“
(Abraham Moles, 1985) 3

„[...] dass Kitsch ein allgemeines Kulturphänomen ist,
und nicht nur ein künstlerisches.“
(Vilém Flusser, 1985) 4

Der Terminus „Kitsch“ kommt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf. Als Geburtsstätte werden zumeist Münchner Künstlerkreise genannt, 1881 soll er erstmals in Berlin nachgewiesen sein. Auch zur Herkunft des Wortes ist man sich nicht einig: Es mag von „verkitschen“ kommen, was nach einem Wörterbuch von 1904 „im Kleinen verhandeln“ und „auf listige Art verkaufen“ bedeutet hat, 5 oder sich von dem englischen „sketch“ (Skizze) herleiten. Was Kitsch gegenüber der Kunst sei, wird seit Anfang des 20. Jahrhunderts diskutiert, die Interpretationen zeichnen sich – ob von Kunsthistorikern, Philosophen, Soziologen, Schriftstellern, Literaturwissenschaftlern oder Kulturkritikern geäußert – durch erhebliche Vielfalt aus und finden zu keiner annähernd einmütigen Fassung. 1933 stellt Norbert Elias resignierend fest: „Der Begriff ‘Kitsch’ neigt zur Verwaschenheit. Wer will mag sich um Definitionen streiten.“6

Ich schließe mich der weitestgehenden Auslegung an, die Kitsch – der Formulierung von Abraham Moles aus dem Jahr 1972 folgend – als „eine Haltung, ein Verhalten“ ansieht: „Kitsch ist identisch mit einer Beziehung des Menschen zu den Dingen.“ 7 Insofern diese sich im Fortschritt der Zeit ändert, ist Kitsch ein wandelbarer Begriff. Zudem wird ausgeschlossen, die Frage allein nach ästhetischen Gesichtspunkten auszurichten sowie sie ausschließlich auf Objekte und Darstellungsweisen zu beziehen, was überwiegend Praxis war und nach wie vor – nicht nur außerhalb von Kunstkreisen – gängig ist. Kitsch meint damit eine Disposition, die ebenso die Produzenten von Werken und Aussagen wie deren Rezipienten auszeichnen kann. Und es sind nicht nur bestimmte gesellschaftliche Schichten betroffen, „gibt es doch ein recht kultiviertes Vibrato und Tremolo kitschiger Aneignung von Klassikern“. Da auch „Kunstwerke durchaus in kitschiger Weise angeeignet werden können“,8 erweitert sich der Geltungsbereich über Massenprodukte hinaus, wenngleich deren Aufkommen im 19. Jahrhundert entsprechende Haltungen zumindest begünstigt hat. Summa summarum: „[D]er Kitsch wandelt sich mit dem Besitzer und Betrachter.“9 Und nicht zuletzt ist keiner von uns gefeit, gelegentlich als „Kitsch-Mensch“10 zu agieren, sich beispielsweise einer eindrucksvollen Formulierung zu bedienen, ohne ihren Gehalt kritisch geprüft zu haben, oder sich dem Pathos eine musikalischen Darbietung vorbehaltlos auszuliefern.

In Folge einer früheren Auseinandersetzung mit dem Thema 11 habe ich mich gefragt, ob es nicht schon vor dem Auftreten des Begriffs Kitsch als Fotografie gegeben hat. Überlegungen in dieser Richtung könnte bereits Franz Roh am Beginn der 1930er Jahre angestellt haben. Der Kunsthistoriker wurde, nachdem er in der Reihe Fototek des Berliner Verlages Klinkhardt & Biermann zwei Monografien zu László Moholy-Nagy und Aenne Biermann vorgelegt hatte, als Herausgeber eines dritten Bandes angekündigt. Dieser sollte den Titel „Das Monströse. Zum Begriff des Kitsches in der Fotografie (Sammlung Korty)“ führen, ist jedoch nicht erschienen. Dass sich Roh aus der Kollektion von Raoul Korty bedienen wollte, bedeutet jedenfalls, dass entsprechend deren Ausrichtung vornehmlich fotografische Hervorbringungen des 19. Jahrhunderts das Material abgeben sollten.

1960 hat Helmut Gernsheim unter der Überschrift „Fotografie auf Abwegen“ das Thema aufgegriffen. Dabei identifiziert der Fotohistoriker mehrere Arbeiten aus den 1850er bis 70er Jahren als eine besondere „Art fotografischen Kitsches, eine Entgleisung des Geschmacks, bedingt durch ein unzulängliches Verständnis des fotografisch Darstellbaren.“12 Als nicht darstellbar gilt dem Autor ein Arrangement von Szenen in einem Kombinationsbild, wie im 19. Jahrhundert Fotomontagen genannt worden sind, sowie Lebende Bilder nach Gemälden oder literarischen Vorlagen, unabhängig davon ob sie möglichst detailgetreu nachvollzogen oder bloß nachempfunden wurden. Dazu zählen auch Kreationen ohne direkte Vorbilder, die auf irgendeine Weise Bezüge zur Malerei herstellen, religiöse Motive aufgreifen oder als Allegorien gedacht waren. Als Beispiele führt Gernsheim die Engeldarstellungen der englischen Piktorialistin Julia Margaret Cameron 13 und des Londoner Fotografen Oscar Gustav Rejlander sowie „The Two Ways of Live“ desselben Autors aus dem Jahr 1857 an. Diese Montage hat der ehemalige Maler aus etwa 30 Einzelbildern zusammengesetzt,

Oscar Gustav Rejlander: „The Two Ways of Life“, 1857
Oscar Gustav Rejlander: „The Two Ways of Life“, 1857 Quelle

sie wurde auf einer Kunstausstellung präsentiert und erregte erhebliches Aufsehen, wohl wegen der nackten Modelle und weil sie Königin Victoria angekauft hatte. Doch es erhoben sich auch kritische Stimmen – und Gernsheim macht sich das Kunstverständnis jener Jahre zu eigen –, die es der Fotografie nicht zugestanden, zur Malerei in Konkurrenz zu treten, sondern dieser bestenfalls Studien als Vorlagen liefern dürfte.

Ohne Rücksicht auf die wenig differenzierten Urteile Gernsheims 14 lassen sich an den Beispielen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts weitere Überlegungen anschließen, sofern über die ästhetischen Kriterien hinausgegangen wird. Ein Bild kann ja nicht schon deshalb als kitschig eingestuft werden, weil ein anderes Medium das Motiv schon früher gewählt oder imstande ist, es ‘adäquater’ wiederzugeben. Auch wenn man die Intention der Allegorie in Rejlanders „The Two Ways of Life“ berücksichtigt, sticht vor allem die simple Machart ins Auge, mit der Tugend und Laster mit geistigen und körperlichen Genüssen gleichgesetzt und gegeneinander gestellt werden und ein Gegensatz konstruiert wird, den die Wirklichkeit nicht kennt. Zudem werden die ‘tugendhaften’ Gestalten mit ihrer Kleidung in die Ferne vergangener Zeiten versetzt und mit ihren Posen der Tradition religiöser Darstellungen anheimgegeben, wogegen die Nacktheit keine Zeit kennt. So steht das überkommene Gute gegen das allgemein Schlechte: Äpfel gegen Birnen, möchte man sagen. Kitsch ist im gegebenen Fall nicht die Wahl der Mittel, sondern der hinkende Vergleich.

Doch unabhängig von der Art und Qualität der Argumentation steht generell ein wesentliches Moment des Fotografischen den Intentionen der gestaltenden Bildautoren entgegen, wenn sie Zeit und Ort im Bild aufheben möchten. Denn was immer abgebildet wird, es ist durchdrungen vom Jetzt der Aufnahmesituation, von dem, was sich zu einem bestimmten Zeitpunkt so und so der Kamera dargeboten hat. Für die Inszenierungen der Engel hat es Gernsheim auf den kurzen Nenner gebracht: „Die Engel bleiben Menschen mit Schwanenflügeln, ihre Putten Kinderköpfchen, geschmückt vom Geflügelhändler.“ Die Authentizität, die jeder fotografischen Wiedergabe anhaftet, durchkreuzt die Geschichte, die mit einer Inszenierung im Bild erzählt werden soll.

Es gehört zu den weiteren Merkmalen des Kitsch, dass Dinge, die in keiner Beziehung zueinander stehen, in ein einträchtiges Nebeneinander gesetzt werden. Die Fotografie mit ihrer Bestimmung, alles Sichtbare, das sich vor der Kamera befindet, unterschiedslos aufzuzeichnen, erweist sich diesbezüglich als geradezu prädestiniertes Medium. Der Eklektizismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet seinen Ausdruck nicht nur darin, dass in den bürgerlichen Salons Gegenstände aus unterschiedlichen Epochen und Gegenden, Repliken neben Originalen versammelt werden. Vor allem aber vermögen die Bewohner die angehäuften ‘Kostbarkeiten’ ihrer vertrauten Umgebung nicht mehr anders als eine harmonische Zusammenstellung wahrzunehmen. Zumal auch eine parallel sich etablierende Bildwelt – man denke an die Schöpfungen der Makartzeit – und die Literatur zur „Kunst im Hause“15 die eigene Praxis gewissermaßen sanktioniert.

Dies gilt insbesondere auch für die Atelieraufnahmen, die das Gros der Bildproduktion ab den 1850er Jahren bis zum Fin de Siècle ausmachen. Für die Porträts finden alle möglichen Requisiten und Dekorationen Berücksichtigung, posieren die Modelle neben einer Säulenattrappe aus Pappmaché, die auf einem Teppich platziert ist, kommt der Stuhl aus grob geschnitztem Holt neben einem Tischchen zu stehen, das in Rokoko-Manier gefertigt ist. Doch vermögen solche Stilbrüche

Carlo Ponti, Venezia: „Portatrice d’acqua (Bigolante)“, Sammelbild, um 1863 Pierre Petit & Trinquart, Paris: Herr neben Säulenschaft, um 1861
Carlo Ponti, Venezia: „Portatrice d’acqua (Bigolante)“, Sammelbild, um 1863 Quelle Pierre Petit & Trinquart, Paris: Herr neben
Säulenschaft, um 1861 Quelle

die Kundschaft nicht zu irritieren, ist sie doch im Studio von Gegenständen umgeben, die sie aus der heimischen Einrichtung kennen und nicht selten von denselben Betrieben geliefert worden sind wie die eigenen Anschaffungen. Sogar wenn der Fotograf den Straßenhändler oder einen anderen ortsbekannten Typen ins Atelier holte und ihn in demselben Ambiente ablichtete wie seine sonstige Klientel, fanden solche Abzüge nicht nur Käufer unter den Touristen und Sammlern, sondern nahmen gemeinsam mit den Bildnissen von Verwandten und Bekannten den Weg ins Familienalbum. In den Augen der Zeitgenossen wurden solche Kombinationen im wie als Bild kritiklos akzeptiert, aus heutiger Sicht werden sie als Kitsch empfunden.

Es besteht noch ein weiterer Grund, weshalb die Produkte aus den Porträtateliers kitschige Züge enthalten. Denn die Unvereinbarkeit ist nicht auf die materiellen Erscheinungen beschränkt, die im Bild sichtbar sind. Sie kann ebenso zwischen den Ansprüchen der Modelle und den Besonderheiten des Mediums bestehen. Die Fotografie bot dem aufkommenden Bürgertum die Möglichkeit, sich ein Bild von sich zu machen. Darin mochte sich der Zeitgenosse – über die Einmaligkeit der Gesichtszüge – als unverwechselbares Individuum und – über Pose, Kleidung und Ateliereinrichtung – als Mitglied einer erfolgreichen gesellschaftlichen Gruppe darstellen. Indem sich aber alle mit dem gleichen Ansinnen ablichten ließen und in derselben Manier vor die Kamera traten, verlor sich das individuelle Bild im sozialen und dieses in den Versatzstücken des Ateliers, welche die Wirklichkeit bürgerlichen Daseins nicht freigaben. Insofern trifft das Diktum Leo Poppers im Rückblick auf das 19. Jahrhundert in besonderer Weise zu: „Das Unglück hatte gewollt, daß die beiden gräßlichen Erfindungen, Individualismus und Konfektion gerade zur gleichen Zeit über die Menschheit hereinbrachen [...]“16

Ohnehin muss beachtet werden, inwieweit die Anlage der Fotografie zur massenweisen Vervielfältigung Kitsch als Haltung gefördert oder möglicherweise hervorgebracht hat. In der Bildproduktion setzte mit den Aktivitäten der Kolporteure und ihrer Lieferanten bereits im 18. Jahrhundert eine starke überregionale Verbreitung ein. Im Angebot standen nicht nur Bücher und Broschüren, Kalender und Almanache, sondern auch Bilderbögen, Heiligen- und Andachtsbilder sowie Porträts bekannter Persönlichkeiten. Ohne diese Sparte wäre ein guter Teil der Bevölkerung als Kunden nicht in Betracht gekommen. Denn in Mitteleuropa waren „um 1770: 15%, um 1800: 25%, um 1830: 40%“ der Menschen des Lesens mächtig,17 konnte also die Mehrheit ihre Bedürfnisse an Unterhaltung, Bildung oder religiöser Erbauung nur über Bilder befriedigen. Die Produktion solcher Unterhaltungsware nahm erhebliche Ausmaße an, bedenkt man, dass beispielsweise in den 1820er Jahren von den Druckern im französischen Epinal bereits 200.000 Bilder pro Jahr hergestellt wurden.18 Daneben traten die Guckkastenmänner im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt auf den Plan und lockten mit ähnlichem Bildmaterial die Menschen auf die Straße. Die illustrierten Zeitschriften verdrängten in den 1830 Jahren die reisenden Mediatoren vom Bildermarkt, und zur gleichen Zeit verstärkte sich die industrielle Fertigung von Druckwerken.

An dieser Entwicklung konnten die Produkte der Fotografen zunächst nicht partizipieren. Mit den Unikaten der Daguerreotypie, den verletztlichen Papiernegativen und -positiven der Kalotypie, die nur geringe Auflagen ermöglichte, den aufwendigen Manipulationen bei der Herstellung und den entsprechend hohen Preisen ließ sich nur eine begrenzte Zahl an Käufern gewinnen. Diese stammten aus den finanziell besser gestellten Kreisen des Adels und gehobenen Bürgertums, und entsprechend mussten die fotografischen Bilder nicht dem Geschmack der großen Masse entsprechen. Auch die Einzelfertigung der Bildträger, weitgehend manuell vollzogen, garantierte den Erzeugnissen von seiten ihrer Hersteller hohe Aufmerksamkeit und sorgsame Behandlung, gleichermaßen was die gestalterischen wie die materiellen Belange anging. Zugleich bedingten die experimentellen Erkundungen des neuen Verfahrens der Bildgewinnung, die noch primitive Technik der 1840er Jahre, die sich erst nach und nach eröffnenden Möglichkeiten der ökonomischen Nutzung, eine unbedarfte Handhabung der Kamera. Noch bestimmten die Vorstellungen einer kleinen Gruppe von Zeitgenossen die Bedingungen von Produktion und Rezeption, Inhalt und Aussehen der fotografischen Erzeugnisse.

Mit neuen Herstellungsweisen waren ab den 1850er Jahren größere Auflagen möglich, und 1858 hatte die London Stereocopic Company bereits mehr als 100.000 Motive auf Lager.19 Neben Ansichten berühmter Bauwerke und Sehenswürdigkeiten wurden vornehmlich Genredarstellungen für eine anonyme Klientel hergestellt, welche sich aus Mitgliedern unterschiedlicher Schichten und Berufsgruppen zusammensetzte, in allen möglichen Ländern und Regionen beheimatet war und aus allen möglichen Gründen die Bilder erwarb. Es galt also für die Produzenten, in Motivwahl und Gestaltung allgemeinen Vorlieben zu entsprechen und Bilder für viele Geschmäcker zu liefern,

J. Elliot: „Fortune Telling“, um 1856
J. Elliot: „Fortune Telling“, um 1856 Quelle

was verstärkt zu ‘durchschnittlichen’ Bildlösungen führen musste.20 Insofern mehrten sich die Gelegenheiten, fotografische Darstellungen für vermeintliche Bildbedürfnisse auf den Markt zu bringen. Zugleich stieg die Bereitschaft, in dem großen Fundus auch Exemplare zu wählen, die sich weniger dem Wissensdurst verdankten als sich damit begnügten, den Bildern einzig aufgrund ihrer gefälligen Inszenierungen zuzusprechen. Insofern kann der Hinweis von Susan Sontag, dass „die unablässige Vermehrung der Fotografien letztendlich eine Bejahung des Kitschs“ bedeute, schon für diese frühe Phase in Anspruch genommen werden, auch wenn die Autorin ihr Verständnis aus einem anderen Zusammenhang gewonnen hat.21

Allerdings stellt sich im Falle der Übertragungen von einem Medium in ein anderes, von Originalen in Kopien immer wieder die Frage, welche Absichten verfolgt und welche Zugänge zu den gewonnenen Bildern eröffnet werden. So konnte manch bekanntes Opus nicht direkt fotografisch reproduziert werden, weil es die Lichtverhältnisse der Räumlichkeiten, die das Stück nicht verlassen durfte, nicht zuließen, über die notwendigen Aufnahmegeräte und -materialien nicht verfügt wurde oder die Rechte bereits einem anderen Lichtbildner zugesprochen worden waren. Also fertigte ein Zeichner oder Stecher eine Wiedergabe, die als Vorlage für eine fotografische Aufzeichnung dienen sollte. Dass auf

 

F. & O. Bruckmann’s Nachfolger, Dresden: „Raphael: Madonna di San Sisto. Dresdener Galerie“, um 1878 F. & O. Bruckmann’s Nachfolger, Dresden: „Raphael: Madonna di San Sisto. Dresdener Galerie“, um 1878 Quelle

diesem Weg Details verloren gingen oder nicht genau nachgebildet werden konnten, dass die Farbe in den monochromen Nachbildungen in Grauwerte überführt werden musste, wurde billigend in Kauf genommen. Der kitschige Aspekt solcher Prozeduren liegt darin, dass sowohl die technischen wie die ästhetischen Dispositionen der Reproduktionsverfahren gewissermaßen über das originale Werk gestülpt wurden. Oder überspitzt ausgedrückt: Die Nadel des Stechers korrigierte den Pinsel des Malers, die Lichtempfindlichkeit der Platte mißachtete die vom Künstler gewünschten Kontraste. Denkt man an die zahllosen Adaptionen der beiden Putti in Raphaels Madonna di San Sisto, die seit langem und bis heute als Klebebilder, auf Kaffeetassen und Blechdosen, in Stickarbeiten und auf Plakaten den Menschen vorgesetzt und auch landläufig als Kitsch apostrophiert werden,22 so stellt sich die Frage: Was unterscheidet sie eigentlich von der gezeichneten Fassung des gesamten Gemäldes? Ich beklage nicht den Verlust der Aura infolge des massenweisen Auftretens von fotografischen Kunstreproduktionen, sondern ziele auf die spekulativen Absichten des Bildproduzenten, der davon ausgegangen ist, dass die Konsumenten nicht in der Lage sein würden, das Bild als zeitgenössisches fotografisches Werk anzusehen.

In die prosperierende Phase der Fotografie ab den 1860er Jahren fiel auch die Praxis, Gemälde und Zeichnungen mit erotischen, religiösen und genrehaften Darstellungen ausschließlich oder in erster Linie im Hinblick auf ihre Verbreitung über fotografische Wiedergaben anzufertigen. Dabei haben die Autoren bei der Wahl der Farben bereits beachtet, mit welcher Intensität sich diese als Grautöne

 

H. Hirsch, Berlin: „Lanfant de Metz. 3632. Le premier hommage à Maria [...]“, um 1875 Anonym: „Destouches. 138. La fille bien gardes [...]“, um 1875
H. Hirsch, Berlin: „Lanfant de Metz. 3632.
Le premier hommage à Maria [...]“, um 1875 Quelle
Anonym: „Destouches. 138.
La fille bien gardes [...]“, um 1875 Quelle

in die fotografische Schicht einschreiben würden. Solche in kleinen Formaten auf den Markt gebrachten Sammelbilder verrieten nicht den Standort der Vorlagen: Das Bild existierte in der Öffentlichkeit lediglich als fotografischer Abzug. Der Name des Künstlers und der Titel der Arbeit – beide auf den Untersatzkarton gedruckt – erweckten beim Käufer und Betrachter den Eindruck, es handle sich um ein Kunstwerk von Bedeutung. Der getäuschte Zeitgenosse nahm den ihm vom Geschäftsmann vorgesetzten Kitsch als Kunst, dessen vermeintlicher Wert adelte gewissermaßen die voyeuristischen oder verträumten Blicke.

Was die Fotografie unabhängig von dem, was bildlich festgehalten worden ist, zur Produktion von und Rezeption als Kitsch prädestiniert, ist das kleine Format der Wiedergaben. Das gilt gleichermaßen für Originale wie für ihre drucktechnische Vervielfältigung in Büchern und illustrierten Zeitschriften. Die fotografische Verkleinerung der meisten Vorlagen bringt den Abzug beziehungsweise die Abbildung dem Betrachter nahe, der Bildträger läßt sich bequem handhaben, im Album, in einem Rahmen, in der Kommode oder im Buchregal unterbringen. Der Zugriff ist auf den Käufer und seine Familie beschränkt. Mit dem Besitz des Bildträgers geht das Gefühl einher, das Abgebildete in den eigenen vier Wänden jederzeit verfügbar zu haben. Mit der „Distanzlosigkeit“, hervorgerufen durch die „Verhäuslichung, die alles auf Formate des Handlichen zurechtstutzt“,23 werden die historischen, sozialen, aber auch ästhetischen Dimensionen der Bildwerdung in den Hintergrund gedrängt, und die Aneignung der Bilder geht über das Jetzt der Betrachtung und augenblicklichen Stimmung nicht hinaus. Insofern begünstigten das Format und die damit verbundenen Produktions- und Gebrauchsweisen eine kitschige Herangehensweise. Was auch bedeutet, dass – in Abwandlung zu Hermann Brochs Zuschreibung, „daß es ohne einen Tropfen Effekt, also ohne einen Tropfen Kitsch, in keiner Kunst abgeht“24 – jeder Fotografie der nämliche Tropfen attestiert werden kann. Allerdings gilt dies nur unter der Voraussetzung, dass Kitsch als eine Haltung verstanden wird, die sich über die realen Gegebenheiten zu stellen versucht .

Heute gilt der Kitsch als museumswürdig. Zu den hervorragendsten Protagonisten zählen nicht nur Jeff Koons und Pierre & Gilles, die so tun, als würden sie mit Kitsch gegen den Kitsch antreten und seine Blößen offenlegen. Sondern ich zähle auch Wolfgang Tillmans dazu, der das Alltägliche arrangiert und mit dem Gestus des Beiläufigen ausstattet, zugleich aber in Großformaten von mehreren Metern Umfang präsentiert. So lässt er die Konsumenten glauben, er hätte das Banale in seiner nächsten Umgebung entdeckt und erkenne in ihm eine allgemeine Bedeutung. Der Kitsch liegt nicht in der Komposition der Bilder, auch nicht in ihren aufgeblähten Formaten, sondern in den Gedanken, die sie begleiten: „Meine bekanntesten Bilder sind fast alle inszeniert, trotzdem oder gerade deshalb werden sie so oft als echt und authentisch wahrgenommen. [...] Erstaunlicherweise glaubt das Publikum allerdings die vom Künstler überbrachte Geschichte [...]“ 25

Wolfgang Tillmans: „o.T., München. 1997-017“ Wolfgang Tillmans: „o.T., München. 1997-017“Quelle

12.12.2009

© Timm Starl 2009

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