Allen irdischen Engeln gewidmet
„Sollten die Weltkörper Versteinerungen seyn?
Vielleicht von Engeln.“
(Novalis, 1799/1800) 1
„Die Sonnengeschöpfe aber,
die ich als höhere Wesen Engel nenne,
sind freigewordene Augen [...]“
(Gustav Theodor Fechner, 1825) 2
„So ein Engel tut gut, wenn er wartet,
bis man ihm mitteilt, man bedürfe seiner.“
(Robert Walser, 1925) 3
„Wir wissen alle um Engel.“
(G.F. Hartlaub, 1936) 4
„Mit besseren Augen sähen wir sie überall.“
(Günter Kunert, 1978) 5
Eine Forderung von Sigfried Giedion aus dem Jahr 1947 leitet mich seit Jahren, wenn ich den Blick auf die Geschichte der Fotografie richte. Sie führt mich vom Erstaunen zum Erkennen, von der Einzelheit zum großen Ganzen, vom Phantastischen zur Gewissheit – und in jeweils umgekehrter Richtung: „Für den Historiker gibt es keine banalen Dinge. Er darf – wie der exakte Wissenschaftler – nichts als selbstverständlich hinnehmen. Er hat die Objekte nicht mit den Augen des täglichen Benutzers zu sehen, sondern mit denen des Erfinders, so als wären sie gerade erst entstanden. Er benötigt die unverbrauchten Augen der Zeitgenossen, denen sie wunderbar oder erschreckend erscheinen. Gleichzeitig hat er ihre Konstellation in der Zeit und dadurch ihren Sinn zu bestimmen. Geschichtsschreibung bleibt immer Fragment. Die bekannten Tatsachen sind oft zerstreut wie Gestirne am Firmament. [...]“ 6 Es bedarf also eines naiven Blicks auf die Erscheinungen der Vergangenheit, bevor aus ihnen das Gebilde der Geschichte erwachsen kann. Als sollte dieser Blick sich bereits im zitierten Passus beweisen, habe ich unvermittelt eingehalten, weil das „Firmament“ sich vorzüglich als Stichwort für die nachfolgenden Ausführungen eignet. Denn zur Verhandlung stehen die Engel, jedoch nicht jene, die aus den Religionen über uns gekommen sind, auch wenn wir diesen kurz begegnen werden. Sondern es werden die körperlosen Wesen sein, die ständig um uns sind, unsichtbar und doch allzu gegenwärtig, die sich in unseren Vorstellungen tummeln und immer wieder in unsere Erinnerungen einschleichen. Es sind die Engel der Fotografie, die eine Geschichte haben, wie wir sehen werden, und auch eine Gegenwart, wovon ich Sie überzeugen möchte. Sie sind präsent, wenn wir Fotografien betrachten oder über das Medium nachdenken. 7 Und wer nicht an sie glauben mag, was ich auch verstehen kann, nehme sie als metaphorische Erscheinungen. Die ersten Bilder, die Menschen entworfen haben, waren fiktive. Sie entstanden, indem unsere Vorfahren in den nächtlichen Himmel blickten und einzelne Sterne mit gedachten Strichen verbanden. Einige von diesen Figuren erhielten Namen, eingereiht wurden sie später in die Rubrik der sogenannten Sternbilder. In der Sprache der Fotografie handelte es sich um nicht fixierte Bilder. Sie hielten nicht länger, als ihnen die Aufmerksamkeit ihrer Schöpfer gewiss war.
Anselm Kiefer: „Der Fall der Sterne“, 1998 Quelle |
Die Mixed Media Arbeit von Anselm Kiefer aus dem Jahr 1998 lässt an die unbegrenzten Möglichkeiten denken, sich einen Himmel voller phantastischer Gebilde auszumalen. Die Geradlinigkeit der Verbindungen zwischen den Lichtpunkten führt aber auch zur nüchternen Präzision, von der das Denken der Aufklärung befangen war. Doch dieses verbarg bei allem rationalistischen Eifer und im Streben nach Säkularisierung einen Hang zum Mythologischen, in dem sich Philosophie und Religion, Naturwissenschaft und Geisterglauben immer wieder begegneten. Den Blick zum Himmel beispielsweise richteten ebenso die Astronomen mit analytischer Neugierde wie die Verliebten mit unbestimmter Hoffnung, die Wahrsager wie die Meteorologen, die Seefahrer und die Künstler und nicht zu vergessen: die Priester. Dies gilt für alle Epochen bis heute, im besonderen aber für das 19. Jahrhundert, in dem noch die Fotografen dazukamen.
Étienne Léopold Trouvelot: Teil der Milchstraße, 1874/75 Quelle | Maximilian Wolf: Milchstraße, um 1900 Quelle |
Maximilian Wolf: Komet Moorehouse, 1908 Quelle |
Helligkeit spricht. Denn Engel sind sternengleiche Lichtgestalten, das wissen wir aus den überlieferten Bildern in den Kirchen und in den Büchern: Und selbst die christliche Religion setzt im Buch Hiob die Sterne mit den Engeln gleich, die jauchzten, als Gott die Welt erschuf. Weniger begeistert dürfte der deutsche Astronom Maximilian Wolf gewesen sein, als ihm am 16. November 1908 ein Komet vor die Linse kam und er das Ergebnis seiner Aufnahme betrachtete – denn die vorbeirasenden Lichterscheinungen haben keine Details erkennen lassen.
Astronomen mussten jedoch nicht gläubig sein oder mythischen Verheißungen nachgehen, um nach oben zu sehen, wenn sie wissen wollten, wo denn die Engel zu Hause wären. Cacciari kennt nämlich den Ort, der kein eigentlicher ist: Ihr „Heim“, so hat er 1986 festgestellt, „befindet sich im Land des Nirgendwo, jenseits der Koordinaten des sichtbaren Cosmos. Vierte Dimension nennt“ es sich, „mundus imaginalis.“ Und er weiß auch, dass die Engel schwer aufzuspüren sind, wenn er fortsetzt: „Niemand könnte den Weg dorthin weisen.“ 11 Was heißen soll, dass jeder Mensch auf sich allein gestellt ist und sich von neuem auf die Suche machen muß. Daran könnte liegen, dass ständig nach neuen Sternen geforscht wird und auch welche entdeckt werden.Joseph Mallord William Turner: „Der Engel vor der Sonne“, 1846 Quelle | NASA: „Mars Pathfinder. Clouds on Mars“, 1999 Quelle |
Oder es wird der eine oder andere Stern näher untersucht: In jüngster Zeit hat der Mars Konjunktur. Man behauptet, dort nach Resten eines früheren Lebens suchen zu wollen, aber ich glaube, dabei handelt es sich um ein Ablenkungsmanöver. Eigentlich will man endlich den Engeln auf die Spur kommen, denn es ist schwer vorstellbar, dass die aufwendigen Roboter bloß konstruiert wurden, um Steine einzusammeln. Mit den Aufnahmen, die 1999 per Funk die Erde erreicht haben, konnte man kaum zufrieden sein, denn es waren keine Einzelheiten zu erkennen, lediglich Licht und Wolken. Das aber nährte die Hoffnung, dass sich hinter den rot leuchtenden Schwaden etwas verbergen könnte. Diese Vermutung liegt schon deshalb nahe, weil William Turner 1846 in einem Gemälde einen Engel inmitten einer farblich wie strukturell ganz ähnlichen Wolke hat auftreten lassen. 12
Auch früher schon forschte man mit Vorliebe in den eher undurchsichtigen Gefilden des Himmels. Ein bevorzugtes Terrain bildete der Orion-Nebel. Es hätte ja sein können, dass es Regionen gibt, wo sich Engel versammeln, also in großer Zahl auftreten, wofür die Vielzahl der Sterne spricht, die sich hinter dem Nebel verbergen und neben ihm zu erkennen sind. Vielleicht aber harmoniert die Zahl der Sterne nicht mit jener der Engel, so dass man auch annehmen könnte, dass ein Engel aus mehreren Sternen besteht. Weshalb die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts ihr Augenmerk neben anderem verstärkt auf die Sternbilder früherer Epochen legten, oder die aufgeklärteren unter ihnen nach neuen Bildern suchten. Sogar Amateure machten sich daran. Der Engländer Andrew Ainslee Common beispielsweise hatte in seinem Garten in London ein privates Observatorium errichtet und machte in den 1880er Jahren mehrere Aufnahmen. Am 26. Februar 1883 benötigte er 68 Minuten, um eine Ansicht des Orion-Nebels zu erhalten, aber deutliche Konturen einer engelhaften Gestalt zeichneten sich nicht ab. Ich vermute, dass eine gute Stunde Belichtungszeit einfach zu kurz war – die Zeit der Engel ist eine andere.Andrew Ainslee Common: Orionnebel, 1883 Quelle | Unbekannter Fotograf, Mt. Wilson: „Der große Orionnebel [...]“, 1920er Jahre Quelle |
Professionelle Sternwarten kamen selbstverständlich zu besseren Ergebnissen, vornehmlich jene am Mount Wilson in den 1920er Jahren, wobei ein Teleskop mit einem zweieinhalb Meter großen Spiegel Verwendung fand und man immerhin drei Stunden belichtete. Doch auch andere Einstellungen brachten keine Klarheit. Genauso wenig wie andere Nebel, die untersucht wurden: etwa jener im Sobieski’schen Schild oder der Nordamerika-Nebel.
Rund 100 Jahre davor hatte schon ein englischer Astronom seine Aufmerksamkeit auf den Orion-Nebel gerichtet. Er musste noch zum Bleistift greifen, um sich ein Bild machen zu können. In den Jahren um 1835, als John Herschel in Südafrika den südlichen Sternenhimmel mit einem Riesenteleskop beobachtete und eine Skizze anfertigte, verfügte man noch nicht über eine Apparatur,J.F.W. Herschel: „The Great Nebula in Orion [...]“, 1833/38 Quelle |
Es kann kein Zufall sein, dass zur gleichen Zeit zwei Astronomen unabhängig voneinander einen Terminus für ein Medium geprägt haben, das für die Erkundung der himmlischen Gefilde nachgerade unabdingbar werden sollte. Vielmehr hatten sie zugleich einen Raum entdeckt, in dem sich die Engel in Zukunft bevorzugt aufhalten würden. Denn wo wären sie als mediale Wesen besser aufgehoben als in der Fotografie – worauf ich noch kommen werde.
Zunächst ergibt sich die Frage, die der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Serres 1993 gestellt hat: „Warum sollten wir uns heute für die Engel interessieren?“ Und seine selbst erteilte Auskunft lautet: „Weil unsere Welt um Botschaften organisiert ist und die Engel Boten sind [...]“ 14 Diese Funktion kennen wir aus den biblischen Schriften, wo sie die Verbindung zwischen HimmelSchule von Avignon: Jakobs Leiter, um 1410 Quelle |
und Erde, Gott und der Welt gewährleisten. Die Leiter, auf der sie Jakob im Traum gesehen hatte, haben sie später nicht mehr benötigt, sondern sich auf ihre Flügel verlassen. Jedenfalls bevölkerten die Engel zunächst die religiösen Darstellungen der Künste, bevor sie sich anderen Medien zuwandten.
„Zwei Putten studieren die Gesetzmäßigkeiten der Camera obscura“, 1693 Quelle |
In den optischen Medien fühlten sie sich besonders wohl, sicherlich weil sie selbst unsichtbare Wesen sind, die nur gelegentlich Gestalt annehmen. 1693 hat sie ein unbekannter Illustrator beobachtet, wie sie die Gesetzmäßigkeiten der Camera obscura studieren. Dabei nehmen sie gleichermaßen die Stelle des Lichtspenders wie des Beobachters ein, stehen also vor und hinter der Kamera. Noch ziehen sie die Gestalt von Putti vor, die sich in kindlich-nackter Unbekümmertheit zwischen den göttlichen und den irdischen Gestalten bewegen und solcherart von paradiesischen Zuständen künden.
Im 18. Jahrhundert haben sie sich schließlich aufgemacht, das Gefilde der Bildwelt zu erobern. Nun treten sie auch gelegentlich als Teufel auf, die ja nichts anderes als gefallene Engel sind: In einer Bildbeilage zu einer naturwissenschaftlichen Veröffentlichung von 1748 illustriert einer von ihnen die Projektion einer sog. „Schreckenslaterne“. Der Schrecken geht natürlich vom Bild aus, nicht von der Beschaffenheit der Laterna magica. Diese funktioniert gewissermaßen umgekehrt wie eine Camera obscura, indem sie nicht ein ‘wahres’ Bild der Außenwelt nach innen trägt, sondern ein ‘künstliches’
„Die Projektion der Schreckenslaterne“, 1748 Quelle | Jean Friedrich August Schall: „Die Zauberlaterne der Liebe“, um 1810 Quelle |
von innen nach außen transportiert. Die Engel – hier in ihrer diabolischen Variante – haben sich die Innenwelt der damals beliebten Medien erobert, sie sind sozusagen ins Bild getreten. Zunehmend beschäftigen sich Wissenschaftler und Künstler mit den neuen Instrumenten und Geräten, und Frédéric Jean Schall verrät in einer Aquatinta mit dem Titel „Der Zaubergarten der Liebe“, dass ein Cupido um 1810 bereits Projektionsapparate bedienen kann, nachdem er Laute und Köcher beiseite gelegt hat.
Es ist also ersichtlich, dass die Engel nicht aus heiterem Himmel auf die Fotografie gekommen sind, sondern die veränderten Sehweisen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit vollzogen und bildlich – möchte man sagen und wörtlich meinen – sogar beflügelt haben. Sie wissen also um das zunehmende Bedürfnis der Zeitgenossen, ihre Kenntnisse zu erweitern und sich ein möglichst umfassendes Bild der Welt zu machen. Doch nur eine Minderheit der Bevölkerung ist des Lesens mächtig – um 1770 sind es in Mitteleuropa etwa 15% und 1830 gerade 40% 15 –, nur die allerwenigsten können die umfangreichen Lexika und Enzyklopädien erwerben, geschweige denn zu den Sehenswürdigkeiten reisen, um sie im Original zu betrachten. Es bedarf also möglichst naturgetreuer bildlicher Wiedergaben, die in größtmöglicher Zahl vervielfältigt werden müssen, um zirkulieren zu können.Louis Jacques Mandé Daguerre: Ohne Titel, 1837 Quelle |
Dass die Fotografie das adäquate Medium dieser Epoche abgeben werde, erkannten die Engel sehr früh. Ihre Weitsichtigkeit zeigte sich, indem sie von Anfang an präsent waren, schon in der Ära der Daguerreotypie, die ja ein Unikat darstellt, also den reproduktiven Anforderungen der Zeit noch nicht Genüge tun konnte. Wie wir von Louis Jacques Mandé Daguerre wissen, hat er sich für den Mond interessiert und Ende 1838/Anfang 1839 zumindest eine Aufnahme von dem Trabanten gemacht. Was immer er dort zu entdecken erwartete, der Erfinder hat sich auch mit Engeln auseinandergesetzt hat. Und dafür gibt es sogar einen bildlichen Beleg: In der ältesten von Daguerre erhaltenen Aufnahme, einem Stilleben von 1837, behaupten sich zwei Engelsköpfe neben einem Relief, einem Tierkopf (oder sind es zwei?), einem Bild mit Passepartout (vielleicht eine Lithografie). Jedenfalls ist bei keinem Stück erkennbar, ob man ein originales Kunstwerk oder eine Reproduktion vor sich hat. Bei den Skulpturen könnte es sich ebenso wie bei dem Relief um Gipsabgüsse handeln. Damit hätte der Bildautor – wenn auch nicht mit Absicht – eine wesentliche Fähigkeit des neuen Mediums thematisiert, zumindest angedeutet, nämlich jene zur allerhöchsten Genauigkeit und gleichzeitig – das sei betont – zur brillantesten Täuschung.
Man mag sich angesichts der beiden pausbäckigen Putti fragen, warum die Engel bloß als Fragmente aufgetreten sind. Sicherlich ist es zu weit hergeholt, würde man annehmen, sie wollten auf ihre Möglichkeiten hinweisen, sich in allen möglichen Gestalten zu offenbaren. Allerdings hat ein bedeutender Physiker jener Jahre über ihre Beschaffenheit Mutmaßungen angestellt. Gustav Theodor Fechner verfasste 1825 eine Skizze mit dem Titel Vergleichende Anatomie der Engel. Darin hat er seinen Protagonisten eine Kugelgestalt verordnet und dies damit begründet, dass alle Geschöpfe sich in diese Richtung entwickeln würden, wobei der Kopf des Menschen – als dem höchsten Wesen der Natur – dies beinahe erreicht habe. Auch die Sprache der Engel hat Fechner enträtseln können: „Die Engel theilen einander ihre Gedanken durch Licht mit“, vermerkte er diesbezüglich und erkannte also frühzeitig die Nähe zu einem Medium, das seit 1816 im Entstehen begriffen war. Der Physiker muss von den Experimenten des Joseph Nicéphore Niépce gewusst haben. Dafür spricht auch, dass seine kugeligen Engel nur ein einziges Auge hatten, also ähnlich auf unsere Welt sahen wie eine Kamera.
Im Zusammenhang mit der Bedeutung des Sehens stellte Fechner zudem Vergleiche zwischen den irdischen und den höheren Wesen an und bemerkte: „Wir können ja selbst unser Auge schon geradezu als ein Sonnengeschöpf auf unserer Erde betrachten. Es lebt von und in den Strahlen der Sonne, und hat daher die Gestalt seiner Brüder auf der Sonne selbst. [...] Die Sonnengeschöpfe aber, die ich als höhere Wesen Engel nenne, sind freigewordene Augen von der höchsten inneren Ausbildung, doch immer nach dem Typus derselben geformt. Licht ist ihr Element, wie uns die Luft [...]“ 16 Dass die Engel in Daguerres Bild nur ihre Köpfe preisgeben, mag mehrere Gründe haben. Einerseits wollten sie Fechner einen Gefallen tun, indem sie seinen Vorstellungen zumindest teilweise recht gaben – schließlich war er der erste Wissenschaftler des Jahrhunderts, der ihnen gebührende Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Vielleicht aber sollte dem Bildautor Daguerre Achtung gezollt werden, der den Betrachtern einen Engel bieten wollte, wie ihn seine Zeitgenossen gewöhnt waren. Denn seit jeher tummelten sich in den bildlichen Darstellungen menschenähnliche Gestalten, die mit Flügeln ausgestattet waren. Wir wissen allerdings nicht, ob nun die Engel von sich aus ins Bild drängten oder Daguerre auf ihrer Anwesenheit beharrte. 17 Den Zufall möchte ich an dieser Stelle nicht ins Spiel bringen, obgleich er ein konstitutives Moment des Fotografischen ausmacht und bei der Begegnung mit Engeln gewöhnlich seine Hand im Spiel hat.Wie auch immer: Dem Medium der Fotografie – wie der Daguerreotypie, die ich hier und im folgenden dazuzähle – ist eine Eigenschaft eingeschrieben: Es liebt die Andeutung und setzt sie vor die Gewissheit, derer es sich gleichwohl als Geste ständig bedient. Gezeigt wird etwas, das so aussieht wie sein Vorbild und doch nur einen Kommentar zu diesem darstellt. Die Fotografie liefert immer nur Ansichten in der zweifachen Bedeutung des Wortes: als Bild und als Meinung.
Johann Carl Enßlen: „Deutsches Lichtbild“, 1839 Quelle |
Joachim Boglioni: „Aux amateurs et admirateurs du daguerreotipe“, 1839 Quelle |
Untersatzkarton des Ateliers Dana in New York, 1894 Quelle | Untersatzkarton von A. Bastier in Limoges, um 1878 Quelle | Untersatzkarton von Langer & Pommerenig in Prag, um 1868 Quelle |
Untersatzkarton von P. Hofbauer in Fischamend, 1898 Quelle | Untersatzkarton von Adolf Winter in Ipolyságan, um 1875 Quelle | Untersatzkarton von Joh. Martin Lenz in Cilli, um 1895 Quelle |
Untersatzkarton für Amateure, um 1900 Quelle |
Im 20. Jahrhundert fanden sie schließlich neue Auftraggeber, was eine Anzeige am Ende des Säkulums belegt. Die DG Bank warb 1998 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einer Aufnahme von David La Chapelle. Im Text wird auf die „Verkündigung“ der neuen Währung im kommenden Monat hingewiesen und den mittelständischen Unternehmen „Erleuchtung“ versprochen, sofern sie
Anzeige, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1998 Quelle |
die Dienste der Volksbanken und Raiffeisenkassen in Anspruch nehmen würden. Der Engel konnte sich in seinem ureigensten Elysium fühlen, das mit den Termini aus der Bibel beschworen wurde. Über seine geschlechtliche Rolle soll später noch etwas gesagt und jetzt nur auf den Strahlenkranz um sein Haupt hinweisen werden, der ihn als überirdisches Wesen auszeichnet, wobei er gleichzeitig unschwer als männlicher Himmelsbewohner zu identifizieren ist.
Zunächst kehren wir zurück ins 19. Jahrhundert und den Anstrengungen, die Fotografie als Kunst zu etablieren. Manchmal wurde allerdings äußerst plump argumentiert, wenn beispielsweise die berühmten Putti aus Raphaels Sixtinischer Madonna in Erinnerung gerufen wurden, um zu zeigen, dass die Fotografie gleichermaßen zu einer solchen Inszenierung fähig 1850er Jahren der inO.G. Rejlander: „Composition after a detail in Raphael’s Sistine Madonna“, um 1856 Quelle | Raphael: Madonna di San Sisto, um 1512 Quelle | Atelier Adèle: Elisabeth und Maria Annunziata, Erzherzoginnen von Österreich, um 1870 Quelle |
London wirkende Oscar Gustave Rejlander. Ihm folgten mehrere Fotografen, insbesondere in Österreich, wie beispielsweise Adele Perlmutter, die in Wien ein prominentes Atelier betrieb und zu deren Spezialitäten unter anderem auch Tableaux vivants zählten. Das waren sogenannte „Lebende Bilder“, in denen Szenen aus der Literatur oder der Malerei nachgestellt wurden. Als Darsteller fungierten meist jene Herrschaften aus adeligen Kreisen, in deren Räumen die Vorführungen stattfanden, so auch die beiden jungen Erzherzoginnen in einer Anfang der 1870er Jahre veröffentlichten Aufnahme.
Julia Margaret Cameron: „Nestling Angel“, 1870 Quelle | ||
William Adolphe Bouguereau: Cupido, um 1875 Quelle |
Anonym: Jugendlicher Pilger, um 1900 Quelle | Arnulf Rainer: Ohne Titel, 1992 Quelle |
Parallel zu ihrem Dasein in solch abgehobenen artistischen Gestalten finden die Engel in jenen Jahren auch in den populären Bildmedien Platz und bevölkern vornehmlich die illustrierten Postkarten sowie die Chromolithografien, die sich in gerahmten Zustand vorzüglich zum Schmuck der häuslichen Zimmerwände eignen. Dort treten sie in eigener Sache auf, werben nicht mehr für die Fotografie, sondern für sich als die besseren Wesen. Man denke an den Schutzengel, der das Kind über den schmalen Steg geleitet. Doch die nämlichen Engel führen – so das Unglück nicht abzuwenden ist – die Kinder auch in die himmlischen Gefilde. Wilhelm Kaulbach hat dazu die Ansicht geliefert, auf der
Anonym: „Zu Gott“, nach dem Gemälde von Wilhelm von Kaulbach, 1870er Jahre Quelle | F. Wendell, Leipsic, Ohio: „The Angel of Peace“, 1898 Quelle |
ein solcher Hüter „zu Gott“ und seinesgleichen fliegt und dabei sehnsuchtsvoll auf alles Irdische zurückblickt. (Wenn auch von anderer Ausrichtung, so mutet dieser zugleich vorwärts drängende wie zurück schauende Engel an wie ein christlich bewegter Vorgänger, der für jenen von Paul Klee Pate gestanden haben könnte, auf den ich später noch kommen werde.)
Was den Engeln der Jahrhundertwende gemein ist: Sie sind nun endgültig in die Körper von Menschen geschlüpft und betreten in diesen das 20. Jahrhundert. Eingang finden sie sogar in die Hervorbringungen der Knipser, wie in einer um 1910 entstandenen Aufnahme, die aus anonymer Provenienz überliefert ist. Der Auftritt ist noch recht zurückhaltend, kaum dass die Flügel gezeigt
Unbekannter Knipser: Junger Engel, um 1910 Quelle |
werden, so dass ein misstrauischer Beobachter meinen könnte, es habe sich bei dem Kind bloß ein umgebundenes Tuch durch die Vorwärtsbewegung aufgebläht. Es ist einfach so, dass das Repertoire der privaten Fotografen und Fotografinnen – damals wie heute – nicht durch übermäßige Vielfalt gekennzeichnet ist, so dass die Engel nur gelegentlich in deren Bildwelt zu entdecken sind. Außerdem produzieren Knipser nicht für die Öffentlichkeit, sondern kreieren Erinnerungsstücke zur eigenen Erbauung. Die Engel wollen aber Publicity und suchen immer nach einer Bühne mit entsprechend großer Breitenwirkung. Ein vorzügliches Podium bietet der Kitsch, und manchmal fügt sich, dass Knipser und Kitsch Hand in Hand gehen.
I.S. (Knipserin): Weihnachtsengel, um 1975 Quelle |
Die Engel entschieden sich für die Kunst – oder besser: für alle Künste, nicht nur für die bildenden wie seit Jahrhunderten, sondern insbesondere für die neuen medialen, sofern sie über genügend Fähigkeiten besaßen, eine täuschend ähnliche Wiedergabe der Realität bereitzustellen. Die Engel traten in Filmen auf – wer kennt nicht jenen von Wim Wenders, der einen von ihnen über Berlin geortet hat. Mein liebster Engel in diesem Metier ist ein unsichtbarer, und er hat zudem melancholische Züge. Ich möchte ihn kurz vorstellen: Zwei Freunde, Jules und Jim, – so auch der Titel des Films von François Truffaut aus dem Jahr 1961 –, zwei Freunde also, die lange Jahre getrennt waren, haben sich wieder gefunden, aber die Liebe einer Frau, die sie beide verehren, war zu Ende gegangen. Nun sitzen sie erstmals wieder mit Cathérine zusammen, und nach einem Augenblick des Schweigens bemerkt Jules: „Ein Engel schwebt durch den Raum.“ Darauf sagt Jim: „Es ist genau 1 Uhr 20.“ Jules sieht fragend seinen Freund an, worauf dieser meint: „Engel kommen immer 20 Minuten nach 1 Uhr.“ 25
Der Engel, der durch den filmischen Raum schwebt und für etwas steht, was man nicht sieht, erinnert an manche Sterne, deren Licht die Erde erst erreicht, nachdem sie selbst längst nicht mehr existieren. Es ist dieselbe Stimmung, die über manch einer Fotografie liegt, als wäre etwas da und zugleich fort. Ich meine nicht die merkbaren Differenzen zwischen Original und Bild, sondern die zeitlichen Elemente, die sich zwischen Aufnahme und Betrachtung geradezu aufbauschen. Ich meine den Vorwurf im Moment der Belichtung, der schon auf die zukünftigen Blicke zielt, die immer zu spät kommen; und jenen in der Betrachtung: die Vergegenwärtigung einer Vergangenheit, die niemals zu erreichen ist. In diesen Projektionen, die gegen das so unmittelbare wie unabänderliche Jetzt opponieren, verbergen sich die Engel: „Des Menschen Engel ist die Zeit“, verkündet Schiller 1799 in Wallensteins Tod, also am Vorabend des Jahrhunderts, das die himmlischen Heerscharen endgültig auf die Erde geholt hat. Und mit den Engeln verbirgt sich in diesen Momenten des Fotografischen auch die Geschichte – ungefähr so wie Paul Klees Angelus novus von 1920 für Walter Benjamin die Projektionsfigur abgegeben hat, auf der sich seine Vorstellungen haben entfalten lassen. Es ist die These IX seiner geschichtstheoretischen Überlegungen, und ich möchte den Text anschließend wiedergeben, weil er das Jetzt, dem wir fotografisch ständig entkommen möchten, in einen anderen Zusammenhang stellt. „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ 26 Um auf die Engel der Fotografie zurückzukommen und deren Treiben weiter zu verfolgen: Sie erscheinen wie erwähnt im 20. Jahrhundert in allen möglichen Bildern, literarischen wie filmischen und fotografischen. Für ihre Auftritte haben sie sich eine neue Rolle zugelegt: nicht mehr als ungeschlechtliche Wesen wollen sie unter die Menschen treten, sondern wie ihresgleichen: als Frauen oder Männer, als Mädchen oder Knaben. Da sie von den voyeuristischen Neigungen einer von Männern beherrschten Welt wissen, bevorzugen sie dann und wann die nackte weibliche Gestalt. So in einer Aufnahme des tschechischen Lichtbildners Josef Sudek aus der ersten Hälfte der 1950er Jahre, die dem Engel einen veritablen Platz im Reich des Eros einräumt.Josef Sudek: „Detail s barokním krídlem“, 1951/54 Quelle | Josef Sudek: Ohne Titel, o.J. Quelle |
Sudek fand öfter Motive, die auf Engel verweisen. Er verfügte auch – wie ein Vergleich der Bilder unschwer erkennen lässt – über mehrere Flügel, die sich als Requisiten einsetzen ließen. Eines seiner Stilleben enthält allerlei Andeutungen, die in verschiedene Richtungen weisen. Zu entdecken sind bei näherer Betrachtung zudem verschiedene Hinweise auf das Medium, dessen sich der Fotograf bedient hat. Dass das Gestell am linken Bildrand zum Trocknen der gewässerten Glasplatten dient, steht außer Frage. Der leere Rahmen mag für unterschiedliche Produkte nützlich sein, zunächst aber repräsentiert er den Ausschnitt und die Grenzen bildlicher Darstellung. Die Uhr kennzeichnet den Moment der Belichtung. Die im Regal stehenden Folianten tragen teilweise handgeschriebene Etiketten auf ihren Rücken: Es könnte sich um die Register zur fotografischen Produktion des Künstlers handeln. Und die Christusfigur vor dem Tischleuchter sieht stark nach Bauernsilber aus, enthält also jenen Stoff, ohne den eine Fotografie nicht entstehen kann. Dass der Flügel in einer Umgebung voller religiöser und fotografischer Utensilien von einem Engel herrührt und damit den medialen Aspekt verkörpert, lässt die subtile Argumentation erkennen, derer sich der Bildautor auch an anderen Stellen befleißigt.
Welche Beweggründe Sudek auch immer zu seiner Kreation geführt haben, die vielleicht nichts anderes hat sein sollen als der Blick auf seine häusliche Umgebung, zu merken ist doch eine Veränderung anderer Art: Die Engel stellen bloß noch ihre Flügel zur Verfügung, begnügen sich mit einer symbolischen Anwesenheit. Sie haben das Terrain der Fotografie erobert und überlassen es fortan den Menschen, die Rolle der Engel zu verkörpern. Dazu müssen die Erdenbewohner aber zunächst fliegen lernen. Der amerikanische Fotograf Ralph Eugene Meatyard hat diese Versuche auf mehreren Aufnahmen in den 1960er Jahren festgehalten. Es kann nicht bezweifelt werden, dass einer der Jungen noch die ersten Übungen absolviert, während ein anderer bereits vom Boden abhebt – oder auch zur Landung ansetzt (bei aller Präzision der fotografischen Aufzeichnung: Hier offenbaren sich wieder die beiden Gesichter des Mediums, das kein Vorher und kein Nachher kennt).
Ralph Eugene Meatyard: „Figure Moving Arms“, 1960 Quelle | Ralph Eugene Meatyard: Ohne Titel, 1960er Jahre Quelle |
Die menschlichen Engel – das unterscheidet sie von ihren himmlischen Geschwistern – sind voller Leben, also auch sterblich –, sie kennen die Zeit. Ihr Dasein ist ein wirkliches, indem sie sich in Zeit und Raum bewegen. Dies adäquat darzustellen, liegt im Bemühen der Fotografie seit ihrer Erfindung. Wie schon eingangs erwähnt – es gelingt ihr niemals, weil sich ihr die Bewegung versagt. Meatyard bedient sich der Unschärfe, indem er die Belichtungszeit ausdehnt und dergestalt sozusagen mehrere Momente zu einem Bild vereinigt. Doch er erreicht damit – wie alle Lichtbildner, welche Methoden sie auch vorziehen – nur eine andere Form der Unwirklichkeit. Denn die dargestellte Konstellation – verschwindende Arme und Hände beziehungsweise der ganze Körper – sind keine realen, sondern ausschließlich fotografische Erscheinungen. Dass wir in den Aufnahmen Bewegung erkennen, liegt an der lange eingeübten Bereitwilligkeit, uns täuschen zu lassen. Man denke an die Kommentare in der Frühzeit der Fotografie, als man solche Aufnahmen durchwegs für misslungen angesehen hat.
Ralph Eugene Meatyard: Ohne Titel, 1960er Jahre Quelle | El Lissitzky: Sohn Jan, 1931 Quelle |
Es gibt noch eine weitere Aufnahme von Meatyard aus derselben Dekade, die zunächst gar nicht als das Foto eines Engels zu identifizieren ist. Nachdem man aber das Faible dieses Lichtbildners kennt, ist unschwer zu erkennen, dass ein junger Engel alle Anstrengungen unternimmt, vom Boden abzuheben. Auch schon der russische Allroundkünstler El Lissitzky hat 1931 beobachtet, wie seinem Sohn Jan Flügel gewachsen sind. Es waren allerdings nur kurze Stummel, so dass die ersten Anläufe kaum von Erfolg gekrönt gewesen sein können. Aber er versucht es bereits und will sich – wie deutlich zu erkennen ist – mit dem linken Fuß abstoßen. Oder ist es der rechte? Die Fotografie hat wieder alle Register der Täuschung gezogen und lässt den Betrachter wie gewohnt über die tatsächlichen Verhältnisse im unklaren.
Inzwischen haben die Menschen tatsächlich Fliegen gelernt und sind bis in den Weltraum vorgestoßen. Die NASA hat den Beweis erbracht und sich fotografischer Mittel bedient. Ein astronautischer Engel ist 1969 beobachtet worden. Solche Himmelserscheinungen benötigen allerdings eine bestimmte Kleidung und allerhand Geräte und müssen auf jegliche Atmosphäre verzichten.NASA: „Sightseeing“, 1969 Quelle |
Was einen Künstler wie Ted Victoria veranlasst hat, auf dieses Manko hinzuweisen. Am Ende des vergangenen Jahrhunderts – oder am Beginn des neuen, wie man will –, im Jahr 2000, schuf er ein Bild und gab ihm den Titel „What a View“. Er behauptet, dass es nur den Engeln gegeben ist,
Ted Victoria: „What a View“, 2000 Quelle |
Woran mag dies liegen? Der Schweizer Maler, Foto- und Medienkünstler Urs Lüthi nimmt die Frage auf:
Urs Lüthy: „Another Reality“, 1995 Quelle |
Vielleicht ist auch der Engel zu nahe, um ihn als solchen identifizieren zu können. Jedenfalls bedarf es eines besonderen Blickes, wollte man diese Wesen ausmachen. Obwohl es eine formidable, sogar bildliche Anleitung gibt, wo denn die Engel zu finden seien. Die in Frankreich lebende deutsche Künstlerin Gloria Friedmann hat sie 1994 geliefert:
Gloria Friedmann: „Images du monde“, 1994 Quelle |
Herwig Kempinger: „Space invaders“, 1985 Quelle |
Wer ihren Spuren in der Fotografie nicht folgen mag, suche die Engel andernorts. Wo sie zu finden sind, hat Günter Kunert 1978 in einer Skizze verraten:
„Engelsscharen
Mit besseren Augen sähen wir sie überall. Zuhauf auf Dächern und Firsten, oder in Regenrinnen gelagert, wartend auf etwas, das nie kommt. Aus jedem Schrank, kaum geöffnet, fallen sie uns schon entgegen, ohne dass wir ihnen mit Schreck oder Betroffenheit begegneten: Höchstens weht ein Hauch, ein unerwarteter Luftzug uns an, ein Duft von Mottenpulver, von Staub. Aus jedem aufgeklapptem Buch purzeln sie scharenweise heraus und uns zu Füßen, ihrer papiernen Heimat Vertriebene. Die allem Irdischen noch nicht ganz Entwöhnten umkreisen die Töpfe auf dem Herd, an den Gerüchen, welche einstmals ihre eigene Leiblichkeit zum Erhalt derselben angeregt, sich melancholisch zu ergötzen. Schon wer einen Schlüssel ins Schloß steckt, sollte sich fragen, ob er nicht dadurch einen Engel aus seinem Ruheplätzchen stößt. Wo sie doch so gänzlich wehrlos und nur bei uns sind, weil ihr eigentliches Refugium überfüllt ist. Sie müssen in Telefondrähten hausen, wo sie unsere Gespräche behindern; wo sie mit verstellter Stimme eine Amtsperson nachahmen oder ein Zeitzeichen. Sie verstopfen die Briefkästen, so daß sie nur unvollkommen geleert werden können, um späterhin Unterschlupf in den ledernen Bauchtaschen der Briefträger zu finden und mit jenen, die nur am wachsenden Gewicht merken, etwas ist nicht in Ordnung, die Treppen hinauf- und hinunterschwanken.
In gewissen alten Treppenhäusern ist ihre Ansammlung derart dicht, dass sie sich durch bestimmte Gerüche bemerkbar macht; eine Ähnlichkeit mit Kohl oder Moder ist nicht zu leugnen. Vor frischer Luft, vor Luftzug, ziehen sie sich in geschützte Winkel zurück, damit sie nicht weggeweht werden. Sonst verhalten sie sich meist still. Sie fürchten nichts als ihre eigene, ständig wachsende Zahl: Was, wenn sie keinen Platz mehr finden und gezwungen sind, ineinander zu wohnen und zu leben? Der Tag ist abzusehen, wo ihre nicht mehr schätzbare Menge die Qualität der Sichtbarkeit annimmt und ihre Masse eine dicke Schicht Gallerte bildet, die die ganze Erde bedeckt, von Pol zu Pol, von den Stätten der Zivilisation, den Städten, bis zu den unter ihnen verkümmernden Urwäldern, herkünftig aus unseren innigsten Himmeln.“
28
Für Hinweise auf Darstellungen von Engeln und Teufeln danke ich herzlich Heike Behrend, Monika Faber, Peter Hassmann, Anton Holzer, Christian Lunzer, Ulrich Pohlmann und Friedrich Tietj.
Eine kleine Galerie der Engel
Alex. Leitermayer, Daguerre-Walzer für Pianoforte, 1864 Quelle | Harry J. Lincoln, The Focus. Two Step, 1908 Quelle |
Benque & Kindermann, Hamburg: „Huldigung an Wilhelm I., König von Preußen, 1870/71“ Quelle | Gaudenzio Marconi: Aktstudie, um 1870 Quelle |
Julia Margaret Cameron: Venus und Cupido, 1872 Quelle | Julia Margaret Cameron: Cherub, 1872 Quelle |
Untersatzkarton des Ateliers „Victor“, um 1898 Quelle | Untersatzkarton von Jos. Machacek, um 1885 Quelle | Untersatzkarton von Geo C. Rockwood, 1890 Quelle |
Leopold Bude: „Moderne Engel“, 1897 Quelle | Hulis Mavruk: „Angels of the Lord“, 1990er Jahre? Quelle |
Anonym: „Schutzengel“, um 1909 Quelle | Anonym: „MAK NITE Dienstag / 18.02.2003“ Quelle |
Gotthard Schuh: „Grabkränze, Paris, 1932“ Quelle | Brassai: Fenster, Grasse, 1947 Quelle |
Manuel Alvarez Bravo: „Angeles en camión“, 1930 Quelle | Josef Koudelka: Ange à bicyclette, 1968 Quelle |
Christian Boltanski: L’Ange, 1984 Quelle | Edgar Lissel: „Engel der Verkündigung“, 2002 Quelle |
Louise Lawler: „Grieving Mothers (Attachment)“, 2005 Quelle | Anonym: Einladungskarte, 2006 Quelle |
Harry Shunk: „Der Mensch im Raum. Der Maler des Raumes stürzt in die Leere“, 1960 Quelle | Eija-Liisa Ahtila: „The House“, 2002 Quelle |
8.8.2009
© Timm Starl 2009
PDF - 4,9 mb