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Allen irdischen Engeln gewidmet

„Sollten die Weltkörper Versteinerungen seyn?
Vielleicht von Engeln.“
(Novalis, 1799/1800) 1

„Die Sonnengeschöpfe aber,
die ich als höhere Wesen Engel nenne,
sind freigewordene Augen [...]“
(Gustav Theodor Fechner, 1825) 2

„So ein Engel tut gut, wenn er wartet,
bis man ihm mitteilt, man bedürfe seiner.“
(Robert Walser, 1925) 3

„Wir wissen alle um Engel.“
(G.F. Hartlaub, 1936) 4

„Mit besseren Augen sähen wir sie überall.“
(Günter Kunert, 1978) 5

 

Eine Forderung von Sigfried Giedion aus dem Jahr 1947 leitet mich seit Jahren, wenn ich den Blick auf die Geschichte der Fotografie richte. Sie führt mich vom Erstaunen zum Erkennen, von der Einzelheit zum großen Ganzen, vom Phantastischen zur Gewissheit – und in  jeweils umgekehrter Richtung: „Für den Historiker gibt es keine banalen Dinge. Er darf – wie der exakte Wissenschaftler – nichts als selbstverständlich hinnehmen. Er hat die Objekte nicht mit den Augen des täglichen Benutzers zu sehen, sondern mit denen des Erfinders, so als wären sie gerade erst entstanden. Er benötigt die unverbrauchten Augen der Zeitgenossen, denen sie wunderbar oder erschreckend erscheinen. Gleichzeitig hat er ihre Konstellation in der Zeit und dadurch ihren Sinn zu bestimmen. Geschichtsschreibung bleibt immer Fragment. Die bekannten Tatsachen sind oft zerstreut wie Gestirne am Firmament. [...]“ 6 Es bedarf also eines naiven Blicks auf die Erscheinungen der Vergangenheit, bevor aus ihnen das Gebilde der Geschichte erwachsen kann.

Als sollte dieser Blick sich bereits im zitierten Passus beweisen, habe ich unvermittelt eingehalten, weil das „Firmament“ sich vorzüglich als Stichwort für die nachfolgenden Ausführungen eignet. Denn zur Verhandlung stehen die Engel, jedoch nicht jene, die aus den Religionen über uns gekommen sind, auch wenn wir diesen kurz begegnen werden. Sondern es werden die körperlosen Wesen sein, die ständig um uns sind, unsichtbar und doch allzu gegenwärtig, die sich in unseren Vorstellungen tummeln und immer wieder in unsere Erinnerungen einschleichen. Es sind die Engel der Fotografie, die eine Geschichte haben, wie wir sehen werden, und auch eine Gegenwart, wovon ich Sie überzeugen möchte. Sie sind präsent, wenn wir Fotografien betrachten oder über das Medium nachdenken. 7 Und wer nicht an sie glauben mag, was ich auch verstehen kann, nehme sie als metaphorische Erscheinungen.

Die ersten Bilder, die Menschen entworfen haben, waren fiktive. Sie entstanden, indem unsere Vorfahren in den nächtlichen Himmel blickten und einzelne Sterne mit gedachten Strichen verbanden. Einige von diesen Figuren erhielten Namen, eingereiht wurden sie später in die Rubrik der sogenannten Sternbilder. In der Sprache der Fotografie handelte es sich um nicht fixierte Bilder. Sie hielten nicht länger, als ihnen die Aufmerksamkeit ihrer Schöpfer gewiss war.

Anselm Kiefer: „Der Fall der Sterne“, 1998 Anselm Kiefer: „Der Fall der Sterne“, 1998 Quelle

Die Mixed Media Arbeit von Anselm Kiefer aus dem Jahr 1998 lässt an die unbegrenzten Möglichkeiten denken, sich einen Himmel voller phantastischer Gebilde auszumalen. Die Geradlinigkeit der Verbindungen zwischen den Lichtpunkten führt aber auch zur nüchternen Präzision, von der das Denken der Aufklärung befangen war. Doch dieses verbarg bei allem rationalistischen Eifer und im Streben nach Säkularisierung einen Hang zum Mythologischen, in dem sich Philosophie und Religion, Naturwissenschaft und Geisterglauben immer wieder begegneten. Den Blick zum Himmel beispielsweise richteten ebenso die Astronomen mit analytischer Neugierde wie die Verliebten mit unbestimmter Hoffnung, die Wahrsager wie die Meteorologen, die Seefahrer und die Künstler und nicht zu vergessen: die Priester. Dies gilt für alle Epochen bis heute, im besonderen aber für das 19. Jahrhundert, in dem noch die Fotografen dazukamen.

Étienne Léopold Trouvelot: Teil der Milchstraße, 1874/75 Maximilian Wolf: Milchstraße, um 1900
Étienne Léopold Trouvelot: Teil der Milchstraße, 1874/75 Quelle Maximilian Wolf: Milchstraße, um 1900 Quelle

Die Milchstraße war dem malenden Etienne Léopold Trouvelot in den 1870er Jahren ebenso Motiv in Pastell wie dem Astronomen Maximilian Wolf um 1900 für eine fotografische Aufzeichnung. Alle – nicht nur die Seefahrer – suchten Orientierung: entweder in der Ordnung, die sich der Anschauung bot, oder in den Vorstellungen, die sich damit verbanden beziehungsweise von ihr lösten. Nichts eignet sich besser für je eigene Koordinatensysteme, die dem Individuellen Struktur verleihen, als das nächtliche Firmament in seiner Unverrückbarkeit.

Mir ist nicht bekannt, was Anselm Kiefer zu seiner kosmologischen Ansicht bewogen hat, die den Titel „Der Fall der Sterne“ trägt. In der Veröffentlichung, in der ich dem Bild begegnet bin, fand sich unter anderem ein Hinweis, dass der Philosoph Massimo Cacciari 1997 an einer Ausstellung des Künstlers in Venedig beteiligt war und über ihn veröffentlicht hat. Derselbe Autor hat sich nicht zuletzt mit besonderen Himmelsbewohnern beschäftigt, nämlich den Engeln, die er als eine „notwendige“ Erscheinung – so das Attribut im Buchtitel von 1986 – apostrophiert. 8 Und in einem Interview desselben Jahres über „Das ‚Fotografische’ und das Problem der Repräsentation“ taucht gegen Ende ein Engel auf: Es ist jener von Paul Klee, 9 in dem sich der Moment der Geschichte spiegelt, der dem fotografischen Moment in vieler Hinsicht ähnlich ist. Auch hier geht es um Orientierung und Verschränkung von Wirklichkeit und Illusion, Vergangenheit und Zukunft, Darstellung und Vorstellung. Auf dieser unbestimmbaren, unsichtbaren Linie will ich – mit etwas gemesseneren Schritten als bisher – nun weitergehen, zumal kein anderer Weg zu den Engeln der Fotografie führt.

Meine erste Station sind natürlich die Astronomen, die ja aus Profession ständig dorthin blicken, woher die Engel kommen sollen: von den Sternen – oder jedenfalls aus deren unmittelbarer Nähe. Denn beispielsweise lehrt die jüdische Mystik, „dass alle Gestirne ihre Befehle von den Engeln erhalten.“ Und die „Engel, die die jeweiligen Planeten bewohnen, tragen auch die Verantwortung für deren Rotation.“ Johannes Kepler vertrat die Theorie des angelus rector, zumal „es schließlich einer Intelligenz bedürfe, um seine Umlaufbahn zu berechnen und ihn dort zu halten.“ Aber auch bei den Muslimen existieren eigene Engel, die für die „Weltordnung“ zuständig sind. 10

Die Begeisterung der Astronomen für Kometen könnte gut damit zusammenhängen, dass diese den Eindruck vermitteln, irgendetwas funktioniere nicht im Weltraum, Teile würden abstürzen oder wegbrechen. Vielleicht stammen die Stücke von Sternen, man weiß das nicht so genau. Und wenn es so wäre, dann könnten die verglühenden Kometen Botschaften von Engeln sein, wofür ja ihre

Maximilian Wolf: Komet Moorehouse, 1908 Maximilian Wolf: Komet Moorehouse, 1908 Quelle

Helligkeit spricht. Denn Engel sind sternengleiche Lichtgestalten, das wissen wir aus den überlieferten Bildern in den Kirchen und in den Büchern: Und selbst die christliche Religion setzt im Buch Hiob die Sterne mit den Engeln gleich, die jauchzten, als Gott die Welt erschuf. Weniger begeistert dürfte der deutsche Astronom Maximilian Wolf gewesen sein, als ihm am 16. November 1908 ein Komet vor die Linse kam und er das Ergebnis seiner Aufnahme betrachtete – denn die vorbeirasenden Lichterscheinungen haben keine Details erkennen lassen.

Astronomen mussten jedoch nicht gläubig sein oder mythischen Verheißungen nachgehen, um nach oben zu sehen, wenn sie wissen wollten, wo denn die Engel zu Hause wären. Cacciari kennt nämlich den Ort, der kein eigentlicher ist: Ihr „Heim“, so hat er 1986 festgestellt, „befindet sich im Land des Nirgendwo, jenseits der Koordinaten des sichtbaren Cosmos. Vierte Dimension nennt“ es sich, „mundus imaginalis.“ Und er weiß auch, dass die Engel schwer aufzuspüren sind, wenn er fortsetzt: „Niemand könnte den Weg dorthin weisen.“ 11 Was heißen soll, dass jeder Mensch auf sich allein gestellt ist und sich von neuem auf die Suche machen muß. Daran könnte liegen, dass ständig nach neuen Sternen geforscht wird und auch welche entdeckt werden.

Joseph Mallord William Turner: „Der Engel vor der Sonne“, 1846 NASA: „Mars Pathfinder. Clouds on Mars“, 1999
Joseph Mallord William Turner: „Der Engel vor der Sonne“, 1846 Quelle NASA: „Mars Pathfinder. Clouds on Mars“, 1999 Quelle

Oder es wird der eine oder andere Stern näher untersucht: In jüngster Zeit hat der Mars Konjunktur. Man behauptet, dort nach Resten eines früheren Lebens suchen zu wollen, aber ich glaube, dabei handelt es sich um ein Ablenkungsmanöver. Eigentlich will man endlich den Engeln auf die Spur kommen, denn es ist schwer vorstellbar, dass die aufwendigen Roboter bloß konstruiert wurden, um Steine einzusammeln. Mit den Aufnahmen, die 1999 per Funk die Erde erreicht haben, konnte man kaum zufrieden sein, denn es waren keine Einzelheiten zu erkennen, lediglich Licht und Wolken. Das aber nährte die Hoffnung, dass sich hinter den rot leuchtenden Schwaden etwas verbergen könnte. Diese Vermutung liegt schon deshalb nahe, weil William Turner 1846 in einem Gemälde einen Engel inmitten einer farblich wie strukturell ganz ähnlichen Wolke hat auftreten lassen. 12

Auch früher schon forschte man mit Vorliebe in den eher undurchsichtigen Gefilden des Himmels. Ein bevorzugtes Terrain bildete der Orion-Nebel. Es hätte ja sein können, dass es Regionen gibt, wo sich Engel versammeln, also in großer Zahl auftreten, wofür die Vielzahl der Sterne spricht, die sich hinter dem Nebel verbergen und neben ihm zu erkennen sind. Vielleicht aber harmoniert die Zahl der Sterne nicht mit jener der Engel, so dass man auch annehmen könnte, dass ein Engel aus mehreren Sternen besteht. Weshalb die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts ihr Augenmerk neben anderem verstärkt auf die Sternbilder früherer Epochen legten, oder die aufgeklärteren unter ihnen nach neuen Bildern suchten. Sogar Amateure machten sich daran. Der Engländer Andrew Ainslee Common beispielsweise hatte in seinem Garten in London ein privates Observatorium errichtet und machte in den 1880er Jahren mehrere Aufnahmen. Am 26. Februar 1883 benötigte er 68 Minuten, um eine Ansicht des Orion-Nebels zu erhalten, aber deutliche Konturen einer engelhaften Gestalt zeichneten sich nicht ab. Ich vermute, dass eine gute Stunde Belichtungszeit einfach zu kurz war – die Zeit der Engel ist eine andere.

Andrew Ainslee Common: Orionnebel, 1883 Unbekannter Fotograf, Mt. Wilson: „Der große Orionnebel [...]“, 1920er Jahre
Andrew Ainslee Common: Orionnebel, 1883 Quelle Unbekannter Fotograf, Mt. Wilson: „Der große Orionnebel [...]“, 1920er Jahre Quelle

Professionelle Sternwarten kamen selbstverständlich zu besseren Ergebnissen, vornehmlich jene am Mount Wilson in den 1920er Jahren, wobei ein Teleskop mit einem zweieinhalb Meter großen Spiegel Verwendung fand und man immerhin drei Stunden belichtete. Doch auch andere Einstellungen brachten keine Klarheit. Genauso wenig wie andere Nebel, die untersucht wurden: etwa jener im Sobieski’schen Schild oder der Nordamerika-Nebel.

Rund 100 Jahre davor hatte schon ein englischer Astronom seine Aufmerksamkeit auf den Orion-Nebel gerichtet. Er musste noch zum Bleistift greifen, um sich ein Bild machen zu können. In den Jahren um 1835, als John Herschel in Südafrika den südlichen Sternenhimmel mit einem Riesenteleskop beobachtete und eine Skizze anfertigte, verfügte man noch nicht über eine Apparatur,

J.F.W. Herschel: „The Great Nebula in Orion [...]“, 1833/38 J.F.W. Herschel: „The Great Nebula in Orion [...]“, 1833/38 Quelle

die zu genauen Aufzeichnungen fähig war. Der Astronom sollte wenig später zu jenen Pionieren gehören, die sich mit Fotografie auseinandergesetzt und mehrere Entdeckungen beigesteuert haben. Bezeichnenderweise beschäftigte er sich insbesondere mit Fragen des Spektrums und der Lichtmessung. Darauf soll hier aber nicht näher eingegangen werden, zumal ich schon sehr viel Platz aufgewendet habe, um den Astronomen bei ihren vergeblichen Anstrengungen bis ins 20. Jahrhundert zu folgen. Doch zu Herschel sollte noch ergänzt werden, dass er nicht nur 525 neue Sternennebel am Firmament entdeckt, sondern auch der Fotografie ihren englischen Namen gegeben hat. Er verwendete als erster das Wort „Photography“ und notierte es am 13. Februar 1839 in sein Tagebuch. Auch das deutsche Wort stammt von einem Astronomen, Heinrich Mädler, der es in der Vossischen Zeitung vom 25. Februar 1839 verwendete. 13

Es kann kein Zufall sein, dass zur gleichen Zeit zwei Astronomen unabhängig voneinander einen Terminus für ein Medium geprägt haben, das für die Erkundung der himmlischen Gefilde nachgerade unabdingbar werden sollte. Vielmehr hatten sie zugleich einen Raum entdeckt, in dem sich die Engel in Zukunft bevorzugt aufhalten würden. Denn wo wären sie als mediale Wesen besser aufgehoben als in der Fotografie – worauf ich noch kommen werde.

Zunächst ergibt sich die Frage, die der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Serres 1993 gestellt hat: „Warum sollten wir uns heute für die Engel interessieren?“ Und seine selbst erteilte Auskunft lautet: „Weil unsere Welt um Botschaften organisiert ist und die Engel Boten sind [...]“ 14 Diese Funktion kennen wir aus den biblischen Schriften, wo sie die Verbindung zwischen Himmel

Schule von Avignon: Jakobs Leiter, um 1410 Schule von Avignon: Jakobs Leiter, um 1410 Quelle

und Erde, Gott und der Welt gewährleisten. Die Leiter, auf der sie Jakob im Traum gesehen hatte, haben sie später nicht mehr benötigt, sondern sich auf ihre Flügel verlassen. Jedenfalls bevölkerten die Engel zunächst die religiösen Darstellungen der Künste, bevor sie sich anderen Medien zuwandten.

„Zwei Putten studieren die Gesetzmäßigkeiten der Camera obscura“, 1693 „Zwei Putten studieren die Gesetzmäßigkeiten der Camera obscura“, 1693 Quelle

In den optischen Medien fühlten sie sich besonders wohl, sicherlich weil sie selbst unsichtbare Wesen sind, die nur gelegentlich Gestalt annehmen. 1693 hat sie ein unbekannter Illustrator beobachtet, wie sie die Gesetzmäßigkeiten der Camera obscura studieren. Dabei nehmen sie gleichermaßen die Stelle des Lichtspenders wie des Beobachters ein, stehen also vor und hinter der Kamera. Noch ziehen sie die Gestalt von Putti vor, die sich in kindlich-nackter Unbekümmertheit zwischen den göttlichen und den irdischen Gestalten bewegen und solcherart von paradiesischen Zuständen künden.

Im 18. Jahrhundert haben sie sich schließlich aufgemacht, das Gefilde der Bildwelt zu erobern. Nun treten sie auch gelegentlich als Teufel auf, die ja nichts anderes als gefallene Engel sind: In einer Bildbeilage zu einer naturwissenschaftlichen Veröffentlichung von 1748 illustriert einer von ihnen die Projektion einer sog. „Schreckenslaterne“. Der Schrecken geht natürlich vom Bild aus, nicht von der Beschaffenheit der Laterna magica. Diese funktioniert gewissermaßen umgekehrt wie eine Camera obscura, indem sie nicht ein ‘wahres’ Bild der Außenwelt nach innen trägt, sondern ein ‘künstliches’

„Die Projektion der Schreckenslaterne“, 1748 Jean Friedrich August Schall: „Die Zauberlaterne der Liebe“, um 1810
„Die Projektion der Schreckenslaterne“, 1748 Quelle Jean Friedrich August Schall: „Die Zauberlaterne der Liebe“, um 1810 Quelle

von innen nach außen transportiert. Die Engel – hier in ihrer diabolischen Variante – haben sich die Innenwelt der damals beliebten Medien erobert, sie sind sozusagen ins Bild getreten. Zunehmend beschäftigen sich Wissenschaftler und Künstler mit den neuen Instrumenten und Geräten, und Frédéric Jean Schall verrät in einer Aquatinta mit dem Titel „Der Zaubergarten der Liebe“, dass ein Cupido um 1810 bereits Projektionsapparate bedienen kann, nachdem er Laute und Köcher beiseite gelegt hat.

Es ist also ersichtlich, dass die Engel nicht aus heiterem Himmel auf die Fotografie gekommen sind, sondern die veränderten Sehweisen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit vollzogen und bildlich – möchte man sagen und wörtlich meinen – sogar beflügelt haben. Sie wissen also um das zunehmende Bedürfnis der Zeitgenossen, ihre Kenntnisse zu erweitern und sich ein möglichst umfassendes Bild der Welt zu machen. Doch nur eine Minderheit der Bevölkerung ist des Lesens mächtig – um 1770 sind es in Mitteleuropa etwa 15% und 1830 gerade 40% 15 –, nur die allerwenigsten können die umfangreichen Lexika und Enzyklopädien erwerben, geschweige denn zu den Sehenswürdigkeiten reisen, um sie im Original zu betrachten. Es bedarf also möglichst naturgetreuer bildlicher Wiedergaben, die in größtmöglicher Zahl vervielfältigt werden müssen, um zirkulieren zu können.

Louis Jacques Mandé Daguerre: Ohne Titel, 1837 Louis Jacques Mandé Daguerre: Ohne Titel, 1837 Quelle

Dass die Fotografie das adäquate Medium dieser Epoche abgeben werde, erkannten die Engel sehr früh. Ihre Weitsichtigkeit zeigte sich, indem sie von Anfang an präsent waren, schon in der Ära der Daguerreotypie, die ja ein Unikat darstellt, also den reproduktiven Anforderungen der Zeit noch nicht Genüge tun konnte. Wie wir von Louis Jacques Mandé Daguerre wissen, hat er sich für den Mond interessiert und Ende 1838/Anfang 1839 zumindest eine Aufnahme von dem Trabanten gemacht. Was immer er dort zu entdecken erwartete, der Erfinder hat sich auch mit Engeln auseinandergesetzt hat. Und dafür gibt es sogar einen bildlichen Beleg: In der ältesten von Daguerre erhaltenen Aufnahme, einem Stilleben von 1837, behaupten sich zwei Engelsköpfe neben einem Relief, einem Tierkopf (oder sind es zwei?), einem Bild mit Passepartout (vielleicht eine Lithografie). Jedenfalls ist bei keinem Stück erkennbar, ob man ein originales Kunstwerk oder eine Reproduktion vor sich hat. Bei den Skulpturen könnte es sich ebenso wie bei dem Relief um Gipsabgüsse handeln. Damit hätte der Bildautor – wenn auch nicht mit Absicht – eine wesentliche Fähigkeit des neuen Mediums thematisiert, zumindest angedeutet, nämlich jene zur allerhöchsten Genauigkeit und gleichzeitig – das sei betont – zur brillantesten Täuschung.

Man mag sich angesichts der beiden pausbäckigen Putti fragen, warum die Engel bloß als Fragmente aufgetreten sind. Sicherlich ist es zu weit hergeholt, würde man annehmen, sie wollten auf ihre Möglichkeiten hinweisen, sich in allen möglichen Gestalten zu offenbaren. Allerdings hat ein bedeutender Physiker jener Jahre über ihre Beschaffenheit Mutmaßungen angestellt. Gustav Theodor Fechner verfasste 1825 eine Skizze mit dem Titel Vergleichende Anatomie der Engel. Darin hat er seinen Protagonisten eine Kugelgestalt verordnet und dies damit begründet, dass alle Geschöpfe sich in diese Richtung entwickeln würden, wobei der Kopf des Menschen – als dem höchsten Wesen der Natur – dies beinahe erreicht habe. Auch die Sprache der Engel hat Fechner enträtseln können: „Die Engel theilen einander ihre Gedanken durch Licht mit“, vermerkte er diesbezüglich und erkannte also frühzeitig die Nähe zu einem Medium, das seit 1816 im Entstehen begriffen war. Der Physiker muss von den Experimenten des Joseph Nicéphore Niépce gewusst haben. Dafür spricht auch, dass seine kugeligen Engel nur ein einziges Auge hatten, also ähnlich auf unsere Welt sahen wie eine Kamera.

Im Zusammenhang mit der Bedeutung des Sehens stellte Fechner zudem Vergleiche zwischen den irdischen und den höheren Wesen an und bemerkte: „Wir können ja selbst unser Auge schon geradezu als ein Sonnengeschöpf auf unserer Erde betrachten. Es lebt von und in den Strahlen der Sonne, und hat daher die Gestalt seiner Brüder auf der Sonne selbst. [...] Die Sonnengeschöpfe aber, die ich als höhere Wesen Engel nenne, sind freigewordene Augen von der höchsten inneren Ausbildung, doch immer nach dem Typus derselben geformt. Licht ist ihr Element, wie uns die Luft [...]“ 16

Dass die Engel in Daguerres Bild nur ihre Köpfe preisgeben, mag mehrere Gründe haben. Einerseits wollten sie Fechner einen Gefallen tun, indem sie seinen Vorstellungen zumindest teilweise recht gaben – schließlich war er der erste Wissenschaftler des Jahrhunderts, der ihnen gebührende Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Vielleicht aber sollte dem Bildautor Daguerre Achtung gezollt werden, der den Betrachtern einen Engel bieten wollte, wie ihn seine Zeitgenossen gewöhnt waren. Denn seit jeher tummelten sich in den bildlichen Darstellungen menschenähnliche Gestalten, die mit Flügeln ausgestattet waren. Wir wissen allerdings nicht, ob nun die Engel von sich aus ins Bild drängten oder Daguerre auf ihrer Anwesenheit beharrte. 17 Den Zufall möchte ich an dieser Stelle nicht ins Spiel bringen, obgleich er ein konstitutives Moment des Fotografischen ausmacht und bei der Begegnung mit Engeln gewöhnlich seine Hand im Spiel hat.

Wie auch immer: Dem Medium der Fotografie – wie der Daguerreotypie, die ich hier und im folgenden dazuzähle – ist eine Eigenschaft eingeschrieben: Es liebt die Andeutung und setzt sie vor die Gewissheit, derer es sich gleichwohl als Geste ständig bedient. Gezeigt wird etwas, das so aussieht wie sein Vorbild und doch nur einen Kommentar zu diesem darstellt. Die Fotografie liefert immer nur Ansichten in der zweifachen Bedeutung des Wortes: als Bild und als Meinung.

Johann Carl Enßlen: „Deutsches Lichtbild“, 1839 Johann Carl Enßlen: „Deutsches Lichtbild“, 1839 Quelle

Von dieser Doppelgesichtigkeit des Fotografischen wissen die Engel natürlich, gleichwohl unterstützen sie das Medium bei seinem Manöver und treten in einer fotogenischen Zeichnung von Johann Carl Enßlen als Allegorie auf. Man schreibt das Jahr 1839, in dem das Verfahren von Daguerre der Öffentlichkeit bekannt gegeben wird und Alexander von Humboldt angesichts der Aufnahmen von ihrer „unnachahmlichen Treue“ spricht, 18 die in dem vorliegenden Bild neben dem Vertrauen der Wahrheit unterstellt ist. Es handelt sich – bezogen auf die mediale Wirkung – im wörtlichen Sinne um eine Unterstellung.

Die ersten Jahre kennen noch weitere erfolgreiche Versuche von Engeln, das fotografische Bild für sich in Anspruch zu nehmen. In Wien ist ein gemalter Cupido mit zwei Putti um die Verbreitung seines Porträts bemüht. Nach dem Gemälde von Francesco Mazzola gen. Il Parmigianino fertigte ein anonymer Künstler einen Kupferstich, auf dem ein bogenschnitzender „Amor“ zu sehen ist, und die Grafik wiederum daguerreotypiert ein gleichfalls unbekannter Lichtbildner. Die Daguerreotypie wird 1840 von dem Wiener Arzt Joseph Berres mittels Ätzung präpariert, so dass sie anschließend als Phototyp, wie er seine Erfindung nennt, vervielfältigt werden kann. 19 Doch mehr als 300 Reproduktionen waren nach dem Verfahren nicht herzustellen, und überdies wirkten diese wie Stiche, so dass sowohl der Aktionsradius eingeschränkt als auch ihr Werdegang im Verborgenen blieb.

Die Mitte der 1840er Jahre aus England gekommene und sich auch auf dem Kontinent durchsetzende Kalotypie war das erste Negativ-/Positivverfahren, ermöglichte also fotografische Abzüge, die auch als solche identifiziert werden konnten. Der rumänische Lichtbildner Carol Szathmari stellte die Skulptur eines Putto mit abgebrochenen Armen in den Mittelpunkt seiner ersten Kalotypie, die im November 1848 entstand. 20 Die versehrte Figur korrespondiert mit dem schlecht erhaltenen Abzug, als ob die Darstellung eines beschädigten Engels – noch dazu in einem kurzlebigen Verfahren – der Nachwelt vorenthalten werden sollte. Man könnte auch vermuten, es handelte sich um einen der frühen Versuche, sich in menschenähnlicher Gestalt – also ohne Flügel – zu zeigen.

Der bereits erwähnte Cacciari gehört zu den wenigen Theoretikern von heute, die der Fotografie als wesentliche Kategorie attestiert haben, dass sie ausschließlich zeigt, was es nicht gibt und – soviel sei Roland Barthes nachgerufen – auch niemals gegeben hat. Für Massimo Cacciari bedeutet diese Differenz den „totalen ‚Mißklang’ zwischen fotografischer Figur und Realität“, 21 und er spricht der Fotografie jede Möglichkeit der Repräsentation entschieden ab. Anders ausgedrückt: Die Fotografie zeigt in keiner Facette, wie unser Kosmos gestaltet ist, ja nicht einmal wie er aussieht, zumal das Objektiv anders wahrnimmt als das menschliche Auge. Die Fotografie vermag wenig mehr, als auf sich selbst zu verweisen.

Denn – ich formuliere einen Gemeinplatz – es existiert keine Wirklichkeit außerhalb der Zeit. Die Fotografie hingegen kreiert den Augenblick des Stillstands, den es niemals gibt – die zeitliche Progression ist ihr fremd. Dies allerdings verbindet sie mit den Engeln, denen jeglicher Begriff von Zeit abgeht. Wie man weiß, altern sie nicht und sind mit ewiger Jugend gesegnet. Denn nicht zuletzt ist ihr Dasein vom Augenblick bestimmt, nämlich jenem der Imagination. Sie erstehen im Denken an sie und verschwinden, sobald der Sinn nicht mehr nach ihnen ist. Ihr Charakter ist ein transitorischer. Daß sie sich in Bildern zeigen – seien es literarische, gemalte, gestochene oder fotografische – ist eine Finte, die sie ebenso beherrschen wie die Fotografie. Denn nur als Bilder können sie den Moment überdauern, der sie geschaffen hat beziehungsweise den sie erschaffen haben. Aber – wie gesagt – die Bilder sind nicht die Wirklichkeit, bestenfalls sind es Botschaften von dieser.

Solche aber sind in Zeiten zunehmender Industrialisierung und Warenwirtschaft wichtig, um die Güter mit Gewinn veräußern zu können. So gingen die beiden Medien eine Allianz ein, die das gesamte 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg halten wird. Die Fotografen suchten Kundschaft für ihre Dienste und Produkte, die Engel unterstützten sie bei ihren Bemühungen und stellten sich für die Reklame zur Verfügung. Bereits 1839 wandte sich der Turiner Daguerreotypist Giacchino Boglioni an die „Amateure und Bewunderer der Daguerreotypie“ 22 und wies darauf hin, dass so einmalige Ereignisse wie eine Sonnenfinsternis mit einer Kamera gleichsam angehalten und für immer bewahrt werden können. Die Zusammenarbeit zwischen den himmlischen und irdischen Geschöpfen funktionierte, denn beide wollten ihr Bild unter die Leute bringen. Die Engel – jedem geläufig in der christlichen Hemisphäre – machten eine Branche bekannt und fanden zugleich im modernsten Medium dieser Zeit ein Podium, auf dem sie ihre Anwesenheit bekunden und ihre Fähigkeiten zur Schau stellen konnten.

Joachim Boglioni: „Aux amateurs et admirateurs du daguerreotipe“, 1839 Joachim Boglioni: „Aux amateurs et admirateurs du daguerreotipe“, 1839 Quelle

Ihre bevorzugte Bühne fanden sie auf den Rückseiten der Kartons, auf die man die dünnen Abzüge klebte und die von den fotografischen Ateliers als Werbefläche benutzt wurden. Die Engel traten als Überbringer des Lichts auf und gaben sich zudem als Gönner und streuten Bildnisse wie Geschenke über die Menschheit. Mit ihrer Vergangenheit als Begleiter der Künste in zahlreichen Gemälden, Zeichnungen und Stichen waren die Putti sozusagen legitimiert, auch der Fotografie einen Platz in diesem Olymp einzuräumen. So betätigen sie sich als Maler oder halten der Muse das Zeichenbrett. Manchmal machen sich Engel auch als Helfer im Aufnahmeraum oder in der Kopierwerkstatt nützlich, öfter als Fotografen hinter der Kamera. Häufig vergnügen sie sich mit den fotografischen Hervorbringungen, halten Abzüge hoch, blicken durch Stereobetrachter oder blättern in Alben. 23

Untersatzkarton des Ateliers Dana in New York, 1894 Untersatzkarton von A. Bastier in Limoges, um 1878 Untersatzkarton von Langer & Pommerenig in Prag, um 1868
Untersatzkarton des Ateliers Dana in New York, 1894 Quelle Untersatzkarton von A. Bastier in Limoges, um 1878 Quelle Untersatzkarton von Langer & Pommerenig in Prag, um 1868 Quelle

 

Untersatzkarton von P. Hofbauer in Fischamend, 1898 Untersatzkarton von Adolf Winter in Ipolyságan, um 1875 Untersatzkarton von Joh. Martin Lenz in Cilli, um 1895
Untersatzkarton von P. Hofbauer in Fischamend, 1898 Quelle Untersatzkarton von Adolf Winter in Ipolyságan, um 1875 Quelle Untersatzkarton von Joh. Martin Lenz in Cilli, um 1895 Quelle

 

Untersatzkarton für Amateure, um 1900 Untersatzkarton für Amateure, um 1900 Quelle

Im 20. Jahrhundert fanden sie schließlich neue Auftraggeber, was eine Anzeige am Ende des Säkulums belegt. Die DG Bank warb 1998 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einer Aufnahme von David La Chapelle. Im Text wird auf die „Verkündigung“ der neuen Währung im kommenden Monat hingewiesen und den mittelständischen Unternehmen „Erleuchtung“ versprochen, sofern sie

Anzeige, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1998
Anzeige, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1998 Quelle

die Dienste der Volksbanken und Raiffeisenkassen in Anspruch nehmen würden. Der Engel konnte sich in seinem ureigensten Elysium fühlen, das mit den Termini aus der Bibel beschworen wurde. Über seine geschlechtliche Rolle soll später noch etwas gesagt und jetzt nur auf den Strahlenkranz um sein Haupt hinweisen werden, der ihn als überirdisches Wesen auszeichnet, wobei er gleichzeitig unschwer als männlicher Himmelsbewohner zu identifizieren ist.

Zunächst kehren wir zurück ins 19. Jahrhundert und den Anstrengungen, die Fotografie als Kunst zu etablieren. Manchmal wurde allerdings äußerst plump argumentiert, wenn beispielsweise die berühmten Putti aus Raphaels Sixtinischer Madonna in Erinnerung gerufen wurden, um zu zeigen, dass die Fotografie gleichermaßen zu einer solchen Inszenierung fähig 1850er Jahren der in

O.G. Rejlander: „Composition after a detail in Raphael’s Sistine Madonna“, um 1856 Raphael: Madonna di San Sisto, um 1512 Atelier Adèle: Elisabeth und Maria Annunziata, Erzherzoginnen von Österreich, um 1870
O.G. Rejlander: „Composition after a detail in Raphael’s Sistine Madonna“, um 1856 Quelle Raphael: Madonna di San Sisto, um 1512 Quelle Atelier Adèle: Elisabeth und Maria Annunziata, Erzherzoginnen von Österreich, um 1870 Quelle

London wirkende Oscar Gustave Rejlander. Ihm folgten mehrere Fotografen, insbesondere in Österreich, wie beispielsweise Adele Perlmutter, die in Wien ein prominentes Atelier betrieb und zu deren Spezialitäten unter anderem auch Tableaux vivants zählten. Das waren sogenannte „Lebende Bilder“, in denen Szenen aus der Literatur oder der Malerei nachgestellt wurden. Als Darsteller fungierten meist jene Herrschaften aus adeligen Kreisen, in deren Räumen die Vorführungen stattfanden, so auch die beiden jungen Erzherzoginnen in einer Anfang der 1870er Jahre veröffentlichten Aufnahme.

Julia Margaret Cameron: „Nestling Angel“, 1870 Julia Margaret Cameron: „Nestling Angel“, 1870 Quelle William Adolphe Bouguereau: Cupido, um 1875
William Adolphe Bouguereau: Cupido, um 1875 Quelle

Waren die Engel in den Künsten schon seit urdenklichen Zeiten präsent, so fanden sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine neue Plattform bei Malern und Fotografen. 24 Der Cupido des Franzosen William Adolphe Bouguereau entstand ebenso in den 1870er Jahren wie der „Nestling Angel“ aus der Kamera der Engländerin Julia Margaret Cameron, die mit ihren Aufnahmen vielfach die Werke ihrer dichtenden Freunde illustrierte. Sie verhalf also den literarischen Engeln zu ihrem Bild, wenn auch im gegebenen Fall nicht überliefert beziehungsweise mir nicht bekannt ist, in welchem Text dieser Engel seine Heimat hat.

Was Malerei und Fotografie ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verbindet, sind – wenn ich es so nennen darf – die menschlichen Züge. Nicht mehr der Liebe spendende Amor, der seine Objekte im Visier hat, und auch nicht der pausbäckige Putto, der mit immergleicher Fröhlichkeit der Szenerie eine locker-heitere Note verschafft, sind die dominierenden Akteure. Vielmehr handelt es sich – wie in den gezeigten Beispielen – um etwas ängstlich wirkende Gestalten, die sich hinter ihren Flügeln verbergen und in die unbelebte Natur flüchten beziehungsweise den Raum hinter sich gelassen haben, in dem die Aufnahme entstanden ist. Damit sind die Engel den Menschen ähnlicher geworden, eine Tendenz, die im ausgehenden 19. Jahrhundert ihre Anfänge hat und erst danach ihren endgültigen Ausdruck findet. Dass diese Entwicklung zu einem Zeitpunkt einsetzt, als die Fotografie des Piktorialismus’ aufkommt und als künstlerisches Medium zusätzliche Anerkennung erfährt, ist kaum ein Zufall. Denn diese Jünger der Verklärung errichten ständig ein Arkadien, wohin sich ihr Blick auch wendet, doch ihre Materie ist das Diesseits, weshalb wirkliche Menschen als Modelle posieren müssen, um auch allem Lebenden paradiesische Züge verleihen zu können.

Anonym: Jugendlicher Pilger, um 1900 Arnulf Rainer: Ohne Titel, 1992
Anonym: Jugendlicher Pilger, um 1900 Quelle Arnulf Rainer: Ohne Titel, 1992 Quelle

Parallel zu ihrem Dasein in solch abgehobenen artistischen Gestalten finden die Engel in jenen Jahren auch in den populären Bildmedien Platz und bevölkern vornehmlich die illustrierten Postkarten sowie die Chromolithografien, die sich in gerahmten Zustand vorzüglich zum Schmuck der häuslichen Zimmerwände eignen. Dort treten sie in eigener Sache auf, werben nicht mehr für die Fotografie, sondern für sich als die besseren Wesen. Man denke an den Schutzengel, der das Kind über den schmalen Steg geleitet. Doch die nämlichen Engel führen – so das Unglück nicht abzuwenden ist – die Kinder auch in die himmlischen Gefilde. Wilhelm Kaulbach hat dazu die Ansicht geliefert, auf der

Anonym: „Zu Gott“, nach dem Gemälde von Wilhelm von Kaulbach, 1870er Jahre F. Wendell, Leipsic, Ohio: „The Angel of Peace“, 1898
Anonym: „Zu Gott“, nach dem Gemälde von Wilhelm von Kaulbach, 1870er Jahre Quelle F. Wendell, Leipsic, Ohio: „The Angel of Peace“, 1898 Quelle

ein solcher Hüter „zu Gott“ und seinesgleichen fliegt und dabei sehnsuchtsvoll auf alles Irdische zurückblickt. (Wenn auch von anderer Ausrichtung, so mutet dieser zugleich vorwärts drängende wie zurück schauende Engel an wie ein christlich bewegter Vorgänger, der für jenen von Paul Klee Pate gestanden haben könnte, auf den ich später noch kommen werde.)

Was den Engeln der Jahrhundertwende gemein ist: Sie sind nun endgültig in die Körper von Menschen geschlüpft und betreten in diesen das 20. Jahrhundert. Eingang finden sie sogar in die Hervorbringungen der Knipser, wie in einer um 1910 entstandenen Aufnahme, die aus anonymer Provenienz überliefert ist. Der Auftritt ist noch recht zurückhaltend, kaum dass die Flügel gezeigt

Unbekannter Knipser: Junger Engel, um 1910 Unbekannter Knipser: Junger Engel, um 1910 Quelle

werden, so dass ein misstrauischer Beobachter meinen könnte, es habe sich bei dem Kind bloß ein umgebundenes Tuch durch die Vorwärtsbewegung aufgebläht. Es ist einfach so, dass das Repertoire der privaten Fotografen und Fotografinnen – damals wie heute – nicht durch übermäßige Vielfalt gekennzeichnet ist, so dass die Engel nur gelegentlich in deren Bildwelt zu entdecken sind. Außerdem produzieren Knipser nicht für die Öffentlichkeit, sondern kreieren Erinnerungsstücke zur eigenen Erbauung. Die Engel wollen aber Publicity und suchen immer nach einer Bühne mit entsprechend großer Breitenwirkung. Ein vorzügliches Podium bietet der Kitsch, und manchmal fügt sich, dass Knipser und Kitsch Hand in Hand gehen.

I.S. (Knipserin): Weihnachtsengel, um 1975 I.S. (Knipserin): Weihnachtsengel, um 1975 Quelle

Dann verzichtet der Engel sogar auf menschliches Aussehen und lässt sich in ein goldenes Gewand stecken, das ihn zunächst in einer Auslage oder einer Vitrine eines Geschäfts auffällig macht und zudem in den 1970er Jahren einen Anlass liefert, dass ihn eine Knipserin mit einer Aufnahme verewigt. Ich kannte die Bildautorin, daher kann ich davon berichten, dass mit dieser Aufnahme vom geschmückten Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen eine familiäre Harmonie beschworen werden sollte, die seit langem nicht mehr existierte. Das fotografische Idyll täuschte über den wahren Hintergrund, den die Wirklichkeit lieferte – wie es auch falsches Gold war, mit dem der Engel glänzte. Aber – wie wir wissen – gehört es ja zum Wesen des Kitsch, dass er vorgibt zu sein, was nicht ist. Dies wiederum macht ihn zu einem Verwandten der Fotografie, die ebenfalls nicht mehr ist als der Schein dessen, was sie vorfindet. Darum lässt sich auch bei manchen Aufnahmen schwer entscheiden, ob es sich um Kunst oder Kitsch handelt.

Die Engel entschieden sich für die Kunst – oder besser: für alle Künste, nicht nur für die bildenden wie seit Jahrhunderten, sondern insbesondere für die neuen medialen, sofern sie über genügend Fähigkeiten besaßen, eine täuschend ähnliche Wiedergabe der Realität bereitzustellen. Die Engel traten in Filmen auf – wer kennt nicht jenen von Wim Wenders, der einen von ihnen über Berlin geortet hat. Mein liebster Engel in diesem Metier ist ein unsichtbarer, und er hat zudem melancholische Züge. Ich möchte ihn kurz vorstellen: Zwei Freunde, Jules und Jim, – so auch der Titel des Films von François Truffaut aus dem Jahr 1961 –, zwei Freunde also, die lange Jahre getrennt waren, haben sich wieder gefunden, aber die Liebe einer Frau, die sie beide verehren, war zu Ende gegangen. Nun sitzen sie erstmals wieder mit Cathérine zusammen, und nach einem Augenblick des Schweigens bemerkt Jules: „Ein Engel schwebt durch den Raum.“ Darauf sagt Jim: „Es ist genau 1 Uhr 20.“ Jules sieht fragend seinen Freund an, worauf dieser meint: „Engel kommen immer 20 Minuten nach 1 Uhr.“ 25

Der Engel, der durch den filmischen Raum schwebt und für etwas steht, was man nicht sieht, erinnert an manche Sterne, deren Licht die Erde erst erreicht, nachdem sie selbst längst nicht mehr existieren. Es ist dieselbe Stimmung, die über manch einer Fotografie liegt, als wäre etwas da und zugleich fort. Ich meine nicht die merkbaren Differenzen zwischen Original und Bild, sondern die zeitlichen Elemente, die sich zwischen Aufnahme und Betrachtung geradezu aufbauschen. Ich meine den Vorwurf im Moment der Belichtung, der schon auf die zukünftigen Blicke zielt, die immer zu spät kommen; und jenen in der Betrachtung: die Vergegenwärtigung einer Vergangenheit, die niemals zu erreichen ist. In diesen Projektionen, die gegen das so unmittelbare wie unabänderliche Jetzt opponieren, verbergen sich die Engel: „Des Menschen Engel ist die Zeit“, verkündet Schiller 1799 in Wallensteins Tod, also am Vorabend des Jahrhunderts, das die himmlischen Heerscharen endgültig auf die Erde geholt hat. Und mit den Engeln verbirgt sich in diesen Momenten des Fotografischen auch die Geschichte – ungefähr so wie Paul Klees Angelus novus von 1920 für Walter Benjamin die Projektionsfigur abgegeben hat, auf der sich seine Vorstellungen haben entfalten lassen. Es ist die These IX seiner geschichtstheoretischen Überlegungen, und ich möchte den Text anschließend wiedergeben, weil er das Jetzt, dem wir fotografisch ständig entkommen möchten, in einen anderen Zusammenhang stellt.

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er  eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ 26

Um auf die Engel der Fotografie zurückzukommen und deren Treiben weiter zu verfolgen: Sie erscheinen wie erwähnt im 20. Jahrhundert in allen möglichen Bildern, literarischen wie filmischen und fotografischen. Für ihre Auftritte haben sie sich eine neue Rolle zugelegt: nicht mehr als ungeschlechtliche Wesen wollen sie unter die Menschen treten, sondern wie ihresgleichen: als Frauen oder Männer, als Mädchen oder Knaben. Da sie von den voyeuristischen Neigungen einer von Männern beherrschten Welt wissen, bevorzugen sie dann und wann die nackte weibliche Gestalt. So in einer Aufnahme des tschechischen Lichtbildners Josef Sudek aus der ersten Hälfte der 1950er Jahre, die dem Engel einen veritablen Platz im Reich des Eros einräumt.

Josef Sudek: „Detail s barokním krídlem“, 1951/54 Josef Sudek: Ohne Titel, o.J.
Josef Sudek: „Detail s barokním krídlem“, 1951/54 Quelle Josef Sudek: Ohne Titel, o.J. Quelle

Sudek fand öfter Motive, die auf Engel verweisen. Er verfügte auch – wie ein Vergleich der Bilder unschwer erkennen lässt – über mehrere Flügel, die sich als Requisiten einsetzen ließen. Eines seiner Stilleben enthält allerlei Andeutungen, die in verschiedene Richtungen weisen. Zu entdecken sind bei näherer Betrachtung zudem verschiedene Hinweise auf das Medium, dessen sich der Fotograf bedient hat. Dass das Gestell am linken Bildrand zum Trocknen der gewässerten Glasplatten dient, steht außer Frage. Der leere Rahmen mag für unterschiedliche Produkte nützlich sein, zunächst aber repräsentiert er den Ausschnitt und die Grenzen bildlicher Darstellung. Die Uhr kennzeichnet den Moment der Belichtung. Die im Regal stehenden Folianten tragen teilweise handgeschriebene Etiketten auf ihren Rücken: Es könnte sich um die Register zur fotografischen Produktion des Künstlers handeln. Und die Christusfigur vor dem Tischleuchter sieht stark nach Bauernsilber aus, enthält also jenen Stoff, ohne den eine Fotografie nicht entstehen kann. Dass der Flügel in einer Umgebung voller religiöser und fotografischer Utensilien von einem Engel herrührt und damit den medialen Aspekt verkörpert, lässt die subtile Argumentation erkennen, derer sich der Bildautor auch an anderen Stellen befleißigt.

Welche Beweggründe Sudek auch immer zu seiner Kreation geführt haben, die vielleicht nichts anderes hat sein sollen als der Blick auf seine häusliche Umgebung, zu merken ist doch eine Veränderung anderer Art: Die Engel stellen bloß noch ihre Flügel zur Verfügung, begnügen sich mit einer symbolischen Anwesenheit. Sie haben das Terrain der Fotografie erobert und überlassen es fortan den Menschen, die Rolle der Engel zu verkörpern. Dazu müssen die Erdenbewohner aber zunächst fliegen lernen. Der amerikanische Fotograf Ralph Eugene Meatyard hat diese Versuche auf mehreren Aufnahmen in den 1960er Jahren festgehalten. Es kann nicht bezweifelt werden, dass einer der Jungen noch die ersten Übungen absolviert, während ein anderer bereits vom Boden abhebt – oder auch zur Landung ansetzt (bei aller Präzision der fotografischen Aufzeichnung: Hier offenbaren sich wieder die beiden Gesichter des Mediums, das kein Vorher und kein Nachher kennt).

Ralph Eugene Meatyard: „Figure Moving Arms“, 1960 Ralph Eugene Meatyard: „Figure Moving Arms“, 1960 Ralph Eugene Meatyard: Ohne Titel, 1960er Jahre
Ralph Eugene Meatyard: „Figure Moving Arms“, 1960 Quelle Ralph Eugene Meatyard: Ohne Titel, 1960er Jahre Quelle

Die menschlichen Engel – das unterscheidet sie von ihren himmlischen Geschwistern – sind voller Leben, also auch sterblich –, sie kennen die Zeit. Ihr Dasein ist ein wirkliches, indem sie sich in Zeit und Raum bewegen. Dies adäquat darzustellen, liegt im Bemühen der Fotografie seit ihrer Erfindung. Wie schon eingangs erwähnt – es gelingt ihr niemals, weil sich ihr die Bewegung versagt. Meatyard bedient sich der Unschärfe, indem er die Belichtungszeit ausdehnt und dergestalt sozusagen mehrere Momente zu einem Bild vereinigt. Doch er erreicht damit – wie alle Lichtbildner, welche Methoden sie auch vorziehen – nur eine andere Form der Unwirklichkeit. Denn die dargestellte Konstellation – verschwindende Arme und Hände beziehungsweise der ganze Körper – sind keine realen, sondern ausschließlich fotografische Erscheinungen. Dass wir in den Aufnahmen Bewegung erkennen, liegt an der lange eingeübten Bereitwilligkeit, uns täuschen zu lassen. Man denke an die Kommentare in der Frühzeit der Fotografie, als man solche Aufnahmen durchwegs für misslungen angesehen hat.

Ralph Eugene Meatyard: Ohne Titel, 1960er Jahre El Lissitzky: Sohn Jan, 1931
Ralph Eugene Meatyard: Ohne Titel, 1960er Jahre Quelle El Lissitzky: Sohn Jan, 1931 Quelle

Es gibt noch eine weitere Aufnahme von Meatyard aus derselben Dekade, die zunächst gar nicht als das Foto eines Engels zu identifizieren ist. Nachdem man aber das Faible dieses Lichtbildners kennt, ist unschwer zu erkennen, dass ein junger Engel alle Anstrengungen unternimmt, vom Boden abzuheben. Auch schon der russische Allroundkünstler El Lissitzky hat 1931 beobachtet, wie seinem Sohn Jan Flügel gewachsen sind. Es waren allerdings nur kurze Stummel, so dass die ersten Anläufe kaum von Erfolg gekrönt gewesen sein können. Aber er versucht es bereits und will sich – wie deutlich zu erkennen ist – mit dem linken Fuß abstoßen. Oder ist es der rechte? Die Fotografie hat wieder alle Register der Täuschung gezogen und lässt den Betrachter wie gewohnt über die tatsächlichen Verhältnisse im unklaren.

Inzwischen haben die Menschen tatsächlich Fliegen gelernt und sind bis in den Weltraum vorgestoßen. Die NASA hat den Beweis erbracht und sich fotografischer Mittel bedient. Ein astronautischer Engel ist 1969 beobachtet worden. Solche Himmelserscheinungen benötigen allerdings eine bestimmte Kleidung und allerhand Geräte und müssen auf jegliche Atmosphäre verzichten.

NASA: „Sightseeing“, 1969

 

NASA: „Sightseeing“, 1969 Quelle

Was einen Künstler wie Ted Victoria veranlasst hat, auf dieses Manko hinzuweisen. Am Ende des vergangenen Jahrhunderts – oder am Beginn des neuen, wie man will –, im Jahr 2000, schuf er ein Bild und gab ihm den Titel „What a View“. Er behauptet, dass es nur den Engeln gegeben ist,

Ted Victoria: „What a View“, 2000 Ted Victoria: „What a View“, 2000 Quelle

eine anregende und nicht dermaßen nüchterne Atmosphäre wie die Menschen zu verbreiten. Und überdies macht er deutlich, dass ausschließlich die Engel in unseren Breitegraden die Kunst des Schwebens beherrschen – und er holt sie zurück in die Welt des Fotografischen, wo sie einen hervorragenden Platz einnehmen und doch immer wieder übersehen werden.

Woran mag dies liegen? Der Schweizer Maler, Foto- und Medienkünstler Urs Lüthi nimmt die Frage auf:

Urs Lüthy: „Another Reality“, 1995 Urs Lüthy: „Another Reality“, 1995 Quelle

„Another Reality“ heißt eine Arbeit von 1995, die den Engel mit seinem Betrachter konfrontiert. Und der Künstler lässt offen, worauf sich der Titel bezieht: auf eine angelologische oder eine fotografische Realität, auf die Gegebenheiten im Bild oder als Bild. Sieht man genauer hin, zeigt sich, dass der Mann gar nicht auf den Engel schaut. Vielmehr richtet sich sein Blick auf den Saum und die letzten Falten des Umhangs, die Füße und das Ende eines Flügels, der aber aus dieser Perspektive nicht unbedingt als solcher auszumachen ist. Streng genommen, kann der Mann also gar nicht wissen, ob ein Mensch oder ein Engel vor ihm steht. Ging es Lüthi etwa um die begrenzte Sichtweise, die den meisten eigen ist und sie daran hindert, einen Engel leibhaftig wahrzunehmen? Der Mann ist im Bild, aber er sieht nichts.

Vielleicht ist auch der Engel zu nahe, um ihn als solchen identifizieren zu können. Jedenfalls bedarf es eines besonderen Blickes, wollte man diese Wesen ausmachen. Obwohl es eine formidable, sogar bildliche Anleitung gibt, wo denn die Engel zu finden seien. Die in Frankreich lebende deutsche Künstlerin Gloria Friedmann hat sie 1994 geliefert:

Gloria Friedmann: „Images du monde“, 1994 Gloria Friedmann: „Images du monde“, 1994 Quelle

Es handelt sich um einen globalen Hinweis, weswegen das Werk auch mit „Images du monde“ betitelt ist. Aber selbst wenn nicht speziell die Engel gemeint sein sollten, erkennen wir doch eine astronomische und daneben eine alltägliche Ansicht. Was heißen soll: Man muß ins Unendliche schauen und darf dabei das Naheliegende nicht übersehen. Oder anders ausgedrückt, nämlich in den Worten von Sigfried Giedion, der 1948 an die Adresse der Historiker vermerkt hat: „Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne.“ 27 Sein Rat war an die Vertreter jener Disziplinen gerichtet, die vornehmlich die berühmten Namen und großen Ereignisse, die stilistischen Epochen und kompositorischen Leistungen für wert halten, einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Ich habe mich mit vielleicht unüblichen Fragestellungen auf den Weg gemacht, um den Engeln der Fotografie nachzuspüren, und wie sich gezeigt hat, sind sie gar nicht so schwer aufzufinden.

Herwig Kempinger: „Space invaders“, 1985 Herwig Kempinger: „Space invaders“, 1985 Quelle

Wer ihren Spuren in der Fotografie nicht folgen mag, suche die Engel andernorts. Wo sie zu finden sind, hat Günter Kunert 1978 in einer Skizze verraten:
„Engelsscharen
Mit besseren Augen sähen wir sie überall. Zuhauf auf Dächern und Firsten, oder in Regenrinnen gelagert, wartend auf etwas, das nie kommt. Aus jedem Schrank, kaum geöffnet, fallen sie uns schon entgegen, ohne dass wir ihnen mit Schreck oder Betroffenheit begegneten: Höchstens weht ein Hauch, ein unerwarteter Luftzug uns an, ein Duft von Mottenpulver, von Staub. Aus jedem aufgeklapptem Buch purzeln sie scharenweise heraus und uns zu Füßen, ihrer papiernen Heimat Vertriebene. Die allem Irdischen noch nicht ganz Entwöhnten umkreisen die Töpfe auf dem Herd, an den Gerüchen, welche einstmals ihre eigene Leiblichkeit zum Erhalt derselben angeregt, sich melancholisch zu ergötzen. Schon wer einen Schlüssel ins Schloß steckt, sollte sich fragen, ob er nicht dadurch einen Engel aus seinem Ruheplätzchen stößt. Wo sie doch so gänzlich wehrlos und nur bei uns sind, weil ihr eigentliches Refugium überfüllt ist. Sie müssen in Telefondrähten hausen, wo sie unsere Gespräche behindern; wo sie mit verstellter Stimme eine Amtsperson nachahmen oder ein Zeitzeichen. Sie verstopfen die Briefkästen, so daß sie nur unvollkommen geleert werden können, um späterhin Unterschlupf in den ledernen Bauchtaschen der Briefträger zu finden und mit jenen, die nur am wachsenden Gewicht merken, etwas ist nicht in Ordnung, die Treppen hinauf- und hinunterschwanken. In gewissen alten Treppenhäusern ist ihre Ansammlung derart dicht, dass sie sich durch bestimmte Gerüche bemerkbar macht; eine Ähnlichkeit mit Kohl oder Moder ist nicht zu leugnen. Vor frischer Luft, vor Luftzug, ziehen sie sich in geschützte Winkel zurück, damit sie nicht weggeweht werden. Sonst verhalten sie sich meist still. Sie fürchten nichts als ihre eigene, ständig wachsende Zahl: Was, wenn sie keinen Platz mehr finden und gezwungen sind, ineinander zu wohnen und zu leben? Der Tag ist abzusehen, wo ihre nicht mehr schätzbare Menge die Qualität der Sichtbarkeit annimmt und ihre Masse eine dicke Schicht Gallerte bildet, die die ganze Erde bedeckt, von Pol zu Pol, von den Stätten der Zivilisation, den Städten, bis zu den unter ihnen verkümmernden Urwäldern, herkünftig aus unseren innigsten Himmeln.“ 28

Für Hinweise auf Darstellungen von Engeln und Teufeln danke ich herzlich Heike Behrend, Monika Faber, Peter Hassmann, Anton Holzer, Christian Lunzer, Ulrich Pohlmann und Friedrich Tietj.

 

Eine kleine Galerie der Engel

Alex. Leitermayer, Daguerre-Walzer für Pianoforte, 1864 Harry J. Lincoln, The Focus. Two Step, 1908
Alex. Leitermayer, Daguerre-Walzer für Pianoforte, 1864 Quelle Harry J. Lincoln, The Focus. Two Step, 1908
Quelle

 

Benque & Kindermann, Hamburg: „Huldigung an Wilhelm I., König von Preußen, 1870/71“ Gaudenzio Marconi: Aktstudie, um 1870
Benque & Kindermann, Hamburg: „Huldigung an Wilhelm I., König von Preußen, 1870/71“ Quelle Gaudenzio Marconi: Aktstudie, um 1870 Quelle

 

Julia Margaret Cameron: Venus und Cupido, 1872 Julia Margaret Cameron: Cherub, 1872
Julia Margaret Cameron: Venus und Cupido, 1872 Quelle Julia Margaret Cameron: Cherub, 1872 Quelle

 

Untersatzkarton des Ateliers „Victor“, um 1898 Untersatzkarton von Jos. Machacek, um 1885 Untersatzkarton von Geo C. Rockwood, 1890
Untersatzkarton des Ateliers „Victor“, um 1898 Quelle Untersatzkarton von Jos. Machacek, um 1885 Quelle Untersatzkarton von Geo C. Rockwood, 1890 Quelle

 

Leopold Bude: „Moderne Engel“, 1897 Hulis Mavruk: „Angels of the Lord“, 1990er Jahre?
Leopold Bude: „Moderne Engel“, 1897 Quelle Hulis Mavruk: „Angels of the Lord“, 1990er Jahre? Quelle

 

Anonym: „Schutzengel“, um 1909 Anonym: „MAK NITE Dienstag / 18.02.2003“
Anonym: „Schutzengel“, um 1909 Quelle Anonym: „MAK NITE Dienstag / 18.02.2003“ Quelle

 

Gotthard Schuh: „Grabkränze, Paris, 1932“ Brassai: Fenster, Grasse, 1947
Gotthard Schuh: „Grabkränze, Paris, 1932“ Quelle Brassai: Fenster, Grasse, 1947 Quelle

 

Manuel Alvarez Bravo: „Angeles en camión“, 1930 Josef Koudelka: Ange à bicyclette, 1968
Manuel Alvarez Bravo: „Angeles en camión“, 1930 Quelle Josef Koudelka: Ange à bicyclette, 1968 Quelle

 

Christian Boltanski: L’Ange, 1984 Edgar Lissel: „Engel der Verkündigung“, 2002
Christian Boltanski: L’Ange, 1984 Quelle Edgar Lissel: „Engel der Verkündigung“, 2002 Quelle

 

Louise Lawler: „Grieving Mothers (Attachment)“, 2005 Anonym: Einladungskarte, 2006
Louise Lawler: „Grieving Mothers (Attachment)“, 2005 Quelle Anonym: Einladungskarte, 2006 Quelle

 

Harry Shunk: „Der Mensch im Raum. Der Maler des Raumes stürzt in die Leere“, 1960 Eija-Liisa Ahtila: „The House“, 2002
Harry Shunk: „Der Mensch im Raum. Der Maler des Raumes stürzt in die Leere“, 1960 Quelle Eija-Liisa Ahtila: „The House“, 2002 Quelle

 

8.8.2009

© Timm Starl 2009

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